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Berlin: Den Tunnel im Blick

1200 Lokführer müssen über die neue Nord-Süd-Strecke – zum Trainieren

Langsam schiebt sich die kurze, schmutzige Regionalbahn über die hohe Betonbrücke, die sich über den Weddinger Häusern erhebt. Was für ein Ausblick! Die kantige Skyline des Potsdamer Platzes, der Bahn-Tower, die Glasfassade des neuen Hauptbahnhofs. Und über allem der hellblaue Himmel. Schön, oder?

„Mmmh, jaja“, murmelt Dominik Müller, als er mit seinem Zug langsam die Brücke hinab in den Tunnel rollt. „Für Sightseeing hab ich jetzt keine Zeit.“ Der 38-jährige Lokführer starrt auf die Gleise vor seinem Zug, greift zum Mikrofon, spricht hinein: „Nächster Halt: Hauptbahnhof.“ Dann drosselt er das Tempo, lautes Quietschen, Ruckeln, die Uhr auf dem Bahnsteig zeigt: „12.47 Uhr“. Willkommen im neuen Hauptbahnhof.

Dominik Müller ist nicht allein. Er hat Kollegen dabei, die ihm über die Schulter schauen, auch sie sind Lokführer. Sie alle werden in diesen Tagen von der Bahn geschult, 1200 Lokführer insgesamt, die Hälfte im ICE, die anderen in Regionalzügen. Erkundet wird die neue Trasse unter dem Tiergarten, am Bahnhof Papestraße vorbei, bis in den Süden, kurz hinter Lichterfelde. Wo sind Notausgänge? Wo die Signale? Wo die Weichen? Und wie schnell darf man eigentlich fahren?

„Streckenerkundungsfahrten“ nennt das die Bahn, die etwas vereinfacht Führerscheinprüfungen ähneln. Nur wer die Strecke einmal abgefahren ist, darf ab 28. Mai auch mit dem ICE oder seinem Regionalexpress dort entlangfahren.

Der Tag der Testfahrten beginnt um 12.21 Uhr, Bahnhof Lichtenberg, Gleis 31. Dominik Müller ist heute so etwas wie der Chef, auch wenn er die Bezeichnung nicht mag. Er ist kein Ausbilder, aber er darf den Knüppel nach vorn schieben, damit sich die Bahn in Bewegung setzt. Müller nämlich ist die Trasse schon entlanggerollt, die anderen nicht, die haben sie nur auf einem Videofilm gesehen. Seit 1986 fährt Müller Züge. Er wollte mal Koch werden, die Eisenbahn hat ihn mehr gereizt.

Mit 21 Jahren darf man sich ans Steuer setzen, null Promille ist Pflicht, private Handy-Gespräche sind verboten. Und wenn einer zu schnell durch die Kurven jagt, „verordnet der Abteilungsleiter einen Beruhigungstee“, sagt ein Lokführer. Trassenrambos sind unerwünscht. Nach fünf Stunden und zehn Minuten muss eine Ruhepause eingelegt werden.

Nach einer halben Stunde kommt Müllers Regionalbahn also im unterirdischen Hauptbahnhof zum Stehen. Putzkräfte stehen an den Rolltreppen und wischen den Boden, es soll alles hübsch aussehen bei der Eröffnungsfeier in drei Wochen. Wieder Quietschen, wieder Ruckeln, um 12.57 Uhr ist er am Bahnhof Potsdamer Platz, drei Minuten später rollt der Zug wieder aus dem Tunnel hinaus, das Tageslicht blendet. Lokführer machen deshalb kurz vorher das Licht in ihrer Kabine an, damit sich die Augen an die Helligkeit gewöhnen.

Der Zug rollt weiter, selten mehr als 80 Stundenkilometer schnell. Vorbei am Südkreuz, vorbei an all den Laubenpiepern, die jahrzehntelang keinen Fernzug an ihrem Schrebergarten gesehen haben und jetzt so viele, hinaus nach Brandenburg. Die Lokführer haben eine grüne Scheckkarte dabei, mit Passfoto, das ist der Bahn-Führerschein. Was denn nun aber so besonders ist, durch einen Tunnel zu fahren? Naja, sagt ein Lokführer, schon mal aufgefallen, dass es in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern bisher kaum Tunnel gab?

André Görke

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