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Berlin: „Der alte Ost-West-Gegensatz schleift sich nur langsam ab“

Der Soziologe Wolfgang Engler über das Desinteresse an Tempelhof in Marzahn – und über die „Frontstadt-Mentalität“ in Charlottenburg

Herr Engler, zeigen die Ergebnisse des Volksentscheids zu Tempelhof, dass Berlin immer noch gespalten ist?

So absolut würde ich es nicht formulieren – zumal das Abstimmungsverhalten von Meinungsforschern vorhergesagt worden und nicht wirklich überraschend war.

Immerhin sprachen sich im Westteil 71,4 Prozent der Wähler für eine Offenhaltung und 28,6 Prozent dagegen aus. Im Osten stimmten nur 36,4 Prozent für die Offenhaltung und 63,4 Prozent dagegen …

Das liegt daran, dass Tempelhof vor allem für ältere Menschen im Westteil ein Symbol des kollektiven Überlebens in schwieriger Zeit darstellt. Die Ostberliner haben die Blockade und alles, was damit zusammenhing, zwar auch verfolgt, aber das griff nicht in ihre unmittelbaren Lebensbedingungen ein. Es war nicht existenziell.

Einige Befürworter von Tempelhof und Initiatoren des Volksentscheids werfen dem Osten jetzt mangelndes Demokratiebewusstsein vor – zu Recht?

Natürlich haben im Osten die Daheimgebliebenen, die Nichtwähler, dominiert, aber das hat, wie gesagt, eher mit dem Desinteresse an Tempelhof zu tun. Und mit der Ansicht vieler Menschen, dass es wichtigere Probleme gibt.

Trotzdem hört man in Steglitz oder Charlottenburg oft den Satz: „Die Ostler haben es uns wieder mal verdorben.“

Was daran liegt, dass während der fast ausschließlich auf Emotionen zielenden Kampagne der Tempelhof-Befürworter bewusst oder unbewusst genau diese alte Frontstadt-Mentalität aktiviert wurde.

Ist das nicht erstaunlich, fast 20 Jahre nach dem Mauerfall?

Nein. Berlin ist unglaublich zusammengewachsen. Wir haben Stadtbezirke mit einer totalen Vermischung von Ost und West. Da spielt die Herkunft fast keine Rolle mehr. Aber wir haben sowohl im Osten als auch im Westen noch Inseln, wo sich Reste des alten Ost-West-Gegensatzes erhalten haben. Das schleift sich nur sehr langsam ab. Deshalb kann ich mir gut vorstellen, dass es Leute in Steglitz oder Charlottenburg gibt, die den rot-roten Senat als Tabubruch und kommunistische Unterwanderung empfinden. Und es wird in Hellersdorf oder Marzahn auch Menschen geben, die triumphieren, weil der „alte Westen“ nicht mehr das Sagen in der Stadt hat. Diese Ressentiments verlieren sich wohl erst mit den Menschen, die sie in sich tragen.

Es gibt Leute, die werfen Wowereit vor, dass er Institutionen im Westen zugunsten des Ostens schließt.

Das ist doch Kinderkram. Es gibt im Osten wie im Westen Institutionen, die um ihr Überleben kämpfen müssen. Der rot-rote Senat versucht meines Erachtens ernsthaft, die politischen Kulturen in der Stadt zusammenzuführen. Ob er dabei immer ein glückliches Händchen hat, sei mal dahingestellt.

Sie sagten, dass es inzwischen Stadtbezirke in Berlin gibt, in denen Ost-West überhaupt keine Rolle mehr spielt.

Da nenne ich nur mal den Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg. Hier hat sich die Bevölkerung zu 60 Prozent regelrecht ausgetauscht. Da gibt es inzwischen bei Wahlen völlig andere Mehrheiten als noch Ende der 90er Jahre. Und die Menschen haben andere Interessen als das historische Wundenlecken. Das hat man übrigens auch beim Volksentscheid gesehen.

Sie meinen die Abstimmungsergebnisse in Köpenick und Pankow?

Genau. Obwohl die doch am „ostigsten“ hätten wählen müssen – wenn die These von der Spaltung Berlins zuträfe. Aber die Köpenicker haben für Tempelhof gestimmt, damit nicht noch mehr Flugzeuge über ihre Häuser, Grundstücke und Datschen fliegen. Und die Pankower wollen natürlich Tegel weghaben und hoffen, dass nun niemand auf die Idee kommt, einen Volksentscheid zur Offenhaltung dieses Flughafens zu organisieren.

Besteht die Gefahr?

Ich weiß es nicht, finde aber, dass die Politik nach den Erfahrungen mit diesem ersten Volksentscheid noch einmal über dieses Instrumentarium nachdenken sollte. Zum einen wegen der doch sehr dominanten Rolle gewisser Medien. Zum anderen, weil Menschen, die weder über Geld noch Medienpräsenz verfügen, nach dieser Abstimmung doch sehr mutlos werden könnten.

Wolfgang Engler (56) ist Soziologe, Autor mehrerer Bücher über Lebensweisen in Ost und West und Rektor der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Ihn fragte Sandra Dassler

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