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Berlin: Der Feind in ihrer Brust

Eine Frau erfährt das Unfassbare, Diagnose: Brustkrebs. 2000 Berlinerinnen erkranken jedes Jahr an einem solchen Tumor. Längst nicht immer ist eine Amputation nötig, alternative Therapien sind erfolgversprechend – wenn früh genug behandelt wird

Warum sie ausgerechnet an jenem Dezemberabend ihre Brust abtastete, weiß sie bis heute nicht. Hat sie sonst nie gemacht. Ein Zufall. Wenn die Sache gut ausgeht, wird sie ihm womöglich ihr Leben verdanken.

Ende Februar dieses Jahres wurde ihr ein Tumor aus der linken Brust entfernt: eineinhalb Zentimeter Durchmesser, Aggressivitätsstufe zwei, „gehobene Mittelklasse“, spottet sie. Drei Schweregrade gibt es laut der Tumorformel. Die Ärzte haben bei ihr eine neue Behandlungsmethode angewandt, bei der das Gewebe um den entfernten Tumor noch während der Operation bestrahlt wird. Sie sind mit dem Ergebnis zufrieden.

Martina Hunold*, 46 Jahre alt, eine schmächtige Frau mit schmalem Gesicht, silberrandiger Brille und hellblonden Haaren, geschieden, alleinstehend, ein Sohn, ist eine von rund 47 000 Frauen, die in Deutschland jährlich an Brustkrebs erkranken; rund 2000 waren es 2004 in Berlin. Für Frauen, die wie Hunold zwischen 40 und 50 Jahre alt sind, ist Brustkrebs die Todesursache Nummer eins: 600 Berliner Patientinnen sterben jedes Jahr daran.

Martina Hunold sitzt in einer Klinik-Cafeteria, Fensterplatz, und nippt an einem Kaffee. Seit einigen Wochen macht sie eine Strahlentherapie. Die Haut an der bestrahlten Brust verfärbt sich allmählich bräunlich, wird empfindlich. Die Strahlentherapeutin sagt, das sei normal.

Woher der Krebs in ihrem Körper kommt, darüber denke sie nicht mehr nach, sagt Matina Hunold. „Er ist eine Tatsache, mit der ich klarkommen muss.“ Die Worte fallen, mit Bedacht ausgesprochen, in einen Moment der Stille. Martina Hunold versucht nicht, die Unsicherheit, die ihre Krankheit mit sich bringt, mit lauten Worten zu erschlagen.

Forschungen zufolge gibt es zwei Szenarien, die auf die besondere Gefährdung einer Frau hindeuten, aufgrund genetischer Veranlagung an Krebs zu erkranken: Zwei nahe Verwandte sind an Brustkrebs erkrankt, bevor sie 50 Jahre alt waren. Oder: Eine nahe Verwandte hatte Brust-, eine andere Eierstockkrebs.

Ihre Mutter und ihre Tante hatten ebenfalls Brustkrebs. Vielleicht also war sie besonders gefährdet. Vielleicht auch nicht. Denn nach bisherigen Erkenntnissen ist genetische Veranlagung in nur fünf bis zehn Prozent der Fälle der Grund für einen Brustkrebs. Ärzte sagen, oft seien die Ursachen nicht nachzuvollziehen.

Auch deshalb ist unklar, wie eine optimale Vorsorge aussehen könnte. Seit geraumer Zeit ist im Gespräch, allen Frauen im Alter von 50 bis 69 Jahren eine regelmäßige Brustkrebs-Vorsorgeuntersuchung, das so genannte Mammografie-Screening, anzubieten. Es soll flächendeckend in der gesamten Republik eingeführt werden. Allerdings sind diese aufwändigen und teuren Untersuchungen umstritten. Manche Wissenschaftler erwarten, die Zahl der Brustkrebstodesfälle werde um ein Drittel sinken. Kritiker dagegen bemängeln, nur eine von 1000 untersuchten Frauen verdanke der radiologischen Früherkennung ihre Heilung.

Was die Therapiemöglichkeiten betrifft, so sind sich Fachleute darin einig, dass es für Brustkrebspatientinnen in Deutschland gute Behandlungsmöglichkeiten gibt. Grundsätzlich gilt: Je früher ein Tumor erkannt wird, desto besser sind die Heilungschancen.

Doch einen Königsweg für die Behandlung gibt es nicht. „Die Therapieentscheidungen werden heute auf die individuellen Gegebenheiten jeder Patientin hin zugeschnitten“, sagt Martina Dombrowski, Chefärztin und Leiterin des Brustzentrums im Evangelischen Waldkrankenhaus Spandau. Die Zeiten, in denen Brustkrebs automatisch bedeutete, dass die befallene Brust abgenommen werden muss, sind längst vorbei. Die Ärzte versuchen, Amputationen zu vermeiden. In sieben von zehn Fällen ist dies laut einer Stastistik des Berliner Robert-Koch-Instituts möglich. Zudem überweisen Frauen- oder Hausärzte ihre Patientinnen vermehrt in Brustzentren, wo Experten verschiedener Fachrichtungen zusammenarbeiten: Radiologen, Operateure, Pathologen, Onkologen, Strahlentherapeuten etwa.

Der Vorteil solcher Zentren besteht darin, dass die Patientin nicht mehr zu jedem Facharzt einzeln gehen muss. Und dass die Fachärzte die Behandlung gemeinsam besprechen und aufeinander abstimmen. So soll sichergestellt sein, „dass alle Aspekte der Erkrankung berücksichtigt werden und die Patientin ihre Informationen aus einer Hand bekommt und nicht durch unterschiedliche Behandlungsvorschläge verwirrt wird“, sagt Martina Dombrowski.

Dass Brustzentren in Berlin bestimmte Kriterien erfüllen müssen, um ein Zertifikat zu bekommen, geht auf eine Initiative der Berliner Ersatzkassen zurück. Diese haben vor drei Jahren das „Disease-Management-Programm“ (DMP) ins Leben gerufen, an dem rund 300 Gynäkologen und Onkologen beteiligt sind. Sie verpflichten sich, regelmäßig an Fortbildungen und Tumorkonferenzen teilzunehmen und überweisen Patientinnen nur in Kliniken, die nachweisen können, dass sie in Sachen Brustkrebs Erfahrung haben.

Nach Ansicht von Betroffenen-Vertretern ist diese Entwicklung überfällig. Viele Frauen seien verunsichert, denn sie wüssten nicht, welche Kliniken und Ärzte gut seien, klagen Selbsthilfegruppen. So kann sich in Deutschland jedes Krankenhaus, das Behandlungen der Brust anbietet, Brustzentrum nennen.

Martina Hunold wurde von ihrem Frauenarzt in das Brustzentrum des Sankt Gertrauden Krankenhauses überwiesen. Die Klinik testet im Rahmen einer internationalen Studie eine neue Form der Bestrahlung: noch während der Operation. Zunächst wird der Tumor entfernt. Der Operateur schneidet einen Sicherheitsrand aus dem Bindegewebe um den Tumor und kontrolliert, ob Lymphknoten befallen sind. Der Pathologe untersucht den Tumor. So weit, so üblich. Dann aber näht der Arzt eine Kunststoffkugel in das Loch ein, Durchmesser zwei bis vier Zentimeter. In deren Mitte verläuft ein schmaler Kanal – in den das Strahlengerät gesteckt wird. Bestrahlungsdauer: 20 bis 40 Minuten. Dann wird die Kugel wieder entfernt und die Wunde zugenäht.

Die Mediziner versprechen sich von dieser Methode, die ehemalige Tumorregion punktgenau zu treffen, um so die Nebenwirkungen zu verringern. „Zudem soll den Frauen künftig die sonst übliche, wochenlange Strahlentherapie nach der Operation erspart bleiben“, sagt Jens-Uwe Blohmer, der Leiter des Brustzentrums im Sankt Gertrauden Krankenhaus. Ob sich die Methode bewährt, werde man frühestens in zwei Jahren wissen.

Doch schon jetzt steht fest, dass sie sich nicht für sehr schwer betroffene Patientinnen eignen wird. Und die Patientin muss mindestens 50 Jahre alt sein. „In diesem Alter ist es weniger wahrscheinlich, dass der Tumor an anderer Stelle wieder auflebt“, sagt Blohmer.

Martina Hunold hat sich bei einer befreundeten Ärztin Rat geholt. Sie wirkt abgeklärt, manchmal fast unbeteiligt. Sie spricht dann von sich wie von irgendeiner Frau, die Krebs hat. Fern scheint jene Frau, die, als sie mit der Diagnose nach Hause kam, den Türpfosten umarmte, als werde sie nie wieder einen Menschen in ihren Armen halten. Musik mit voller Lautstärke hörte und sich besinnungslos tanzte. Und danach eine Stunde lang hemmungslos heulte. Die Auseinandersetzung mit der Diagnose ist ein ständiger Kampf gegen den Wunsch nach Verdrängung. Die Berliner Soziologin Silke Kirschning hält das für ein typisches Phänomen.

Den 14. Februar 2006 wird Martina Hunold so schnell wohl nicht verdrängen: Die Ärztin begrüßt sie in ihrem Arbeitszimmer in der Klinik, auf dem Schreibtisch die Krankenakte. Ein knapper Begrüßungssatz. Dann sagt die Ärztin, es sei etwas Bösartiges. Viel mehr nimmt Hunold nicht wahr, ihr Kopf ist wie betäubt, von sehr fern erreicht sie nur noch, dass die Ärztin sagt: Eine Operation sei nötig.

Solche Gespräche sind heikel, für den Arzt, der die schlechte Nachricht überbringen muss, wie für den Patienten. Die Kölner Journalistin Sibylle Herbert hat zu diesem Thema ein Buch geschrieben („Überleben Glückssache“). Darin kritisiert Herbert, selbst Betroffene, unter anderem, dass Ärzte selten ausführlich erklärten. Es ist ein Vorwurf, den Patienten häufig erheben. Offenbar sieht auch die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie Handlungsbedarf. Sie empfiehlt ihren Ärzten nachdrücklich, den Umgang mit Patienten zu lernen.

Martina Hunold fühlte sich gut behandelt. „Ich hatte erst mal keinen Aufklärungsbedarf, als ich die Diagnose erfahren hatte. Die Ärztin hat das wohl gespürt“, sagt sie. „Die Diagnose war der Schock, nicht das Verhalten der Ärztin.“

Als sie auf dem Krankenhaus-Flur darauf wartet, einen Operationstermin zu bekommen, denkt sie, dass sie die Hauptrolle in der Aufführung ihrer Laien-Theatergruppe nicht wird spielen können. Heute wundert sie sich darüber. So banal. Was der Krebs für ihr weiteres Leben bedeuten könnte, „das habe ich nicht mal ansatzweise geahnt“, sagt sie.

Der Gedanke etwa, dass sie sich gerade erst selbstständig gemacht hat und sich eigentlich nicht leisten kann, Krebs zu haben. Der Gedanke, was wohl die Therapie mit ihrem Körper anstellen wird. Wird am Ende sie gewinnen oder der Krebs? All das kam erst später.

Ob sie nach den 25 Bestrahlungen geheilt sein wird, weiß derzeit niemand. Eine Chemotherapie will sie dennoch nicht machen, obwohl die Ärzte ihr dazu rieten. Sie will sehen, wie sich alles entwickelt. Demnächst tritt sie mit ihrer Theatergruppe auf. Ein Märchen. Die Figuren werden verrückt, nur ein Junge bleibt normal. Weil er als einziger Ruhe bewahrt.

* Name geändert

Marc Neller

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