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Berlin: Der kurze Herbst der Utopie als Spielvorlage - "Mauerrisse" erinnern an eine große Demo

"Lasset die Geister aufeinander prallen, aber die Fäuste haltet stille!", ruft Pastor Schorlemmer über den Alexanderplatz.

"Lasset die Geister aufeinander prallen, aber die Fäuste haltet stille!", ruft Pastor Schorlemmer über den Alexanderplatz. Auf einer großen Leinwand läuft der Film mit den Reden, die auf den Tag genau zehn Jahre zuvor auf diesem Platz vor einer halben Million Menschen gehalten wurden. Beifall für Stefan Heym, Ulrich Mühe, Christa Wolf und andere, Pfiffe für Günter Schabowski und Markus Wolf. Für einen Moment verfällt man der Aura des Ortes: Dort vorn war die Tribüne, da hatte man selber gestanden und mit einem Gefühl der Freude und der Befreiung Worte gehört, die, laut über den Platz dröhnend, aus der eigenen Seele kamen. Die Demo am 4. November 1989 ist so einmalig wie unwiederholbar. Jeder Versuch mag gut gemeint sein, er muss scheitern, weil der Sturm der Veränderung, die Stimmung des Aufbruchs, der erfolgreiche Beginn des freien Wortes nach langer Zeit des Schweigens und, vor allem, weil das Echo der Massen fehlt. Der kurze Herbst der Utopie ist nicht nachspielbar.

So waren die originalen Reden gestern auf dem Alex das einzig Authentische. Die Theaterinstallation "Mauerrisse" vom Carrousel-Theater an der Parkaue spielte sich vor einem ratlosen Publikum ab: Große Puppen, die über den Platz wandeln, sollen Genuss-, Zeitungs-, Justiz- und Geldriesen symbolisieren, Figuren, mit denen der Volksriese irgendwie fertig werden muss. In ihren blauen Overalls erinnern die Darsteller, wie sie da zu Walzerklängen und "Wir-sind-das-Volk"-Rufen aus dem Lautsprecher mit weißen wortlosen Transparenten über den Platz schaukeln, eher an ein versprengtes Anti-Atom-Demo-Grüppchen, und eine DDR-Familie, dargestellt von Studenten der Fritz-Kirchhoff-Schauspielschule in Kreuzberg, versucht, den Ost-Alltag zu rekapitulieren. Hier agiert eine gemischte West-Ost-Truppe. Sohn Uwe (Ost) war im wirklichen Leben vor zehn Jahren mit auf dem Alex und meint, dass es wichtig sei, die Gefühle von damals in Erinnerung zu bringen - "heute sollen die Leute für einen Moment stehen bleiben, in sich hineinhorchen und nachdenken. Die meisten Passanten wissen erst, worum es hier gehen könnte, wenn sie auf einem Viereck aneinandergestellter Tische (die den Runden Tisch symbolisieren sollen) Ablichtungen von Fotos mit Personen der Wende finden oder ein Programm-Magazin "10 Jahre Maueröffnung" in die Hand bekommen. Und plötzlich entwickelt sich so etwas wie ein Dialog, wird jene Meinungsfreiheit so offen wie schonungslos demonstriert, für die die Massen zehn Jahre vorher auf die Straße gegangen waren. Der Alex als kleine Tribüne des Volkes. "Ich bin froh und glücklich über die Wende, es geht mir heute tausend Mal besser", sagt ein Mann. Das Echo ist Widerspruch: "Was hat mir dies neue Leben gebracht? Nichts", ruft ein anderer, und eine Frau beschwert sich, dass die Postler in Ost und West unterschiedlich entlohnt werden. Jemand regt sich auf, dass Polen für fünf Mark die Stunde auf den Bau gehen, einer sagt: "Die DDR hat halb Europa ernährt", alles lacht. Drüben, am Haus des Lehrers, hängt die Losung des Tages: "Wir w a r e n das Volk".

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