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Der Turm ruft: Rotes Rathaus: Dem Himmel 275 Stufen näher

Jahrzehntelang gehörte die Besteigung des 94 Meter hohen Turms zum festen Bestandteil von Ausflügen. Heute ist der Turm des Roten Rathauses für Besucher gesperrt. Dabei könnten sie viel über Berlin lernen.

Direkt vor der Freitreppe ins Rote Rathaus haben sich die Archäologen in die Geschichte Berlins gebuddelt und die Fundamente der Amtssitze einstiger Obrigkeiten freigelegt. Wir aber möchten in die entgegengesetzte Richtung, nicht in die Tiefe, sondern direkt nach oben, der Verwaltung aufs Dach, bis fast ans Ende der Fahnenstange, an der der schwarze Berliner Bär schlapp herumhängt und sich nur dann aufplustert, wenn in dieser Stadt genug Wind gemacht wird, also meistens.

Der Turm ruft, gehen wir los!

Die ersten drei Geschosse des Gebäudes mit der roten Backsteinfassade von Hermann Friedrich Waesemann, in dem seit 141 Jahren die Stadt regiert wird, sind mit einem bequemen Lift ausgestattet, aber dann beginnt schon die Mühsal des Aufstiegs. Wer einen erbaulichen Rundblick haben möchte, der muss leiden, trittfest sein und schwindelfrei dazu. Die erste Station entschädigt bereits für die vergleichsweise kleine Anstrengung, wir stehen auf dem Balkon, den Hausherr Klaus Wowereit den Fußballern von Hertha BSC für den Fall aller Fälle versprochen hat, aber der Balkon kann warten. Der Blick in die Tiefe lässt Suchbohrungen nach Erdöl vermuten; nicht nur in den 252 Büros und 15 Sälen des Rathauses wird Staub aufgewirbelt, sondern auch davor: Hier kommt der Schildvortriebs-Maulwurf für die neue U 5 in die Erde, zugleich wird ein U-Bahnhof gebaut, es kann also dauern. Zwischen Fernsehturm und Spree leuchtet der Herbst in den Bäumen, die Brunnen plätschern, Marx und Engels wurden verrückt, viel mehr gibt es nicht. Krieg und Nachkrieg haben ihre Spuren hinterlassen. Einst war der Stadtkern dicht bebaut – soll die Vergangenheit zurückkommen oder die lichte Gegenwart Bestand haben? „Berlins vergessene Mitte“, die neue Ausstellung der Stiftung Stadtmuseum, wird ab kommenden Mittwoch im Ephraimpalais zeigen, wie Berlins Herzkammer beschaffen war und ist. Der junge Historiker Gernot Schaulinski hat herausgefunden, dass die Besteigung des 94 Meter hohen Turms jahrzehntelang zum festen Bestandteil von Ausflügen gehörte. Und wie ist das heute?

Da ist die Turmbesichtigung so außergewöhnlich, dass der Aufsteiger mit Sondergenehmigung eine Erklärung unterschreiben muss, in der er vor Stolperfallen und ähnlichen Hindernissen gewarnt wird, alles geschieht auf eigene Gefahr. Der Turm wirkt wie ein hoher viereckiger Backsteinschlund, die Treppe, knapp einen halben Meter breit, wendelt sich um ein dickes Rohr. Es geht genau 275 hölzerne Stufen nach oben, Raucherlungen rasseln, beim Blick zurück kann es einem schwindelig werden, das Herz hüpft in freudiger Erwartung des Gipfels, der Atem stockt. Das Werk der Turmuhr und die große Mechanik der Zeiger sind bestaunenswert, man sieht die goße Rathausuhr nun von der hinteren Seite, und dann, irgendwann, steht der, der es bis hierher geschafft hat, draußen unter Fahnenstange und Blitzableiter auf dem ältesten Balkon Berlins. Schaut auf diese Stadt! „Bei schönem Wetter blickt man zehn bis 15 Kilometer weit“, sagt Peter Glowatzki von der Senatsverwaltung, „da drüben ist Schloss Charlottenburg, da hinten Gropiusstadt.“ Wollen wir ihm glauben – Dunst und Regen behindern die Sicht. Aber die goldenen Kugeln auf den schlanken Türmen der Nikolaikirche scheinen auf Augenhöhe inmitten der neuen Altstadt. Aus vielerlei Sicherheitsgründen vom Brandschutz bis zur Wendeltreppe ist eine öffentliche Nutzung des Rathausturms nicht vorgesehen. Glücklicherweise ist er nicht der einzige Aussichtspunkt: Der Fernsehturm, der Funkturm, die Kuppel des Reichstags und die Panoramaetage samt Café im Kollhoff-Haus am Potsdamer Platz sowie der 37. Stock im Park-Inn-Hotel am Alex bieten vergleichsweise harmlosere Aufstiegsmöglichkeiten, um Berlins Mitte und das Drumherum zu erkunden. Und im Schöneberger Rathaus läuft es sich ziemlich locker bis zur Freiheitsglocke.

Nicht nur der hohe Schwierigkeitsgrad verbietet eine Öffnung der Turmplattform für Events aller Art, auch das Wohl der Staatsgäste spielt eine Rolle: Wenn sich Oberhäupter ins Goldene Buch eintragen, wird auch vom Turm aus für Sicherheit gesorgt. Eine Kamera des RBB beobachtet den ältesten Teil der Stadt, und ein Turmfalkenpärchen nistet unter dem oberen Balkon, Fassadenkletterer haben sich abgeseilt und den drei Jungvögeln vom Jahrgang 2010 Ringe über die Krallen geschoben.

275 Stufen rauf und wieder runter. Der Muskelkater wartet. Und die Belohnung im Ratskeller. Der hat wenigstens über Mittag geöffnet und bietet wohlfeil, was unsere Altvorderen hier schon immer gegessen haben: Pellkartoffeln mit Quark.

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