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Das Dach wird zur Baustelle

© dpa

Die Deutschen und ihre historischen Bauten: Berliner Fassaden, wie von Walt Disney entworfen

Warum nur schaffen es die Deutschen so selten, ihre sowieso schon kärglichen historischen Schätze zu bewahren? Gerade in Berlin vernichten Penthouses und Dämmplatten das letzte bisschen Authentizität. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Pascale Hugues

Den ganzen Sommer schon leisten mir sechs Männer Gesellschaft. Sechs stramme Kerle, Sixpack, Schlangentattoos vom Hals bis zum Steiß, honigkuchenfarbene Glatzen, von der Sonne vergoldet. Den ganzen Sommer säuselt Helene Fischer eine Schnulze aus den Tiefen eines alten Kofferradios. Sechs Bauarbeiter auf einem Gerüst schwingen ihre Hüften und ihre Bohrmaschinen im Takt. Seit Monaten verpassen sie dem Haus gegenüber eine Dachwohnung.

Ja, ich benutze bewusst das eher abwertende Verb „verpassen“. Ich muss zugeben, dass mir das Dach auf der anderen Straßenseite sozusagen ans Herz gewachsen war. Ein üppiges Gehäuse aus bräunlichen Ziegeln, die in der Abendsonne rot leuchteten. Seit es im Jahr 1905 erbaut worden war, hatte es sich nicht gerührt. Weder Sturmböen noch Sturzregen, nicht einmal der Schnee hatten es geschafft. Und nicht einmal die Bomben im Februar 1944, die fast alle Gebäude meiner Straße zerstörten. Das Dach gegenüber war eines der wenigen Relikte der Vorkriegsarchitektur. Einer der letzten Zeugen aus jener Epoche, in der meine Straße elegant und wohlhabend war, ein Hingucker. Eine begehrte Adresse im aufstrebenden Berlin.

Aneinander gepappte Häuser

Ganz anders als das heute verbreitete Sammelsurium von irgendwie aneinander gepappten Häusern. An einem Winternachmittag inspizierte ich den Dachboden da drüben. Ich stieg die Treppen hinauf und ganz oben, unter dem Dach, stieß ich eine kleine Tür auf, die dem Druck meiner Hand ohne weiteres nachgab. Die Dielen knarrten unter meinen Schritten. In einer Ecke lagen ein altes Geländer, ein paar klapprige Möbel, eine schmutzstarrende Decke, eine Wäscheleine, die das Erscheinen des Wäschetrockners nicht überlebt hatte, ein Haufen Briketts, Staubschichten. Ein vergessener Ort aus einem anderen Zeitalter, kurz bevor der Himmel anfängt. Aber die Berliner Immobilienpreise klettern immer weiter, und die Nostalgie hat gegenüber der Spekulation das Nachsehen. Der Besitzer des Hauses gegenüber hat beschlossen, das Dach aufzubrechen und hier zwei Luxusappartements unterzubringen. Eine Fensterreihe und eine Terrasse entstellen das Dach.

Seit einer Woche decken die Arbeiter es mit neuen Ziegeln. Orange, glatt, ohne Kratzer, einer genau wie der andere. Aber vor allem sind sie frei von den Spuren der Zeit. Ein Dach wie aus einer Deko von Walt Disney, ohne Seele, ohne Geschichte. Wenn ich morgens aus dem Haus trete und meine Straße entlanggehe, frage ich mich oft, warum die Deutschen es so selten schaffen, ihre sowieso schon kärglichen historischen Schätze zu bewahren. In Frankreich wurden im Krieg sehr wenige Städte zerstört. Ein Dach mehr oder weniger? Kommt nicht so drauf an.

Wo das Alte noch da ist, wird es durch das Moderne ersetzt

Aber in Deutschland sind von vielen Städten – wie von meiner Straße – nur Ruinenberge geblieben. Und trotzdem kommt niemand vom Denkmalschutz auf die Idee, das nicht Zerstörte zu schützen. Na klar, werden Sie mir sagen, die Dächer einer so gewöhnlichen Straße haben doch keinen Wert. Keine besonderen Merkmale. Der Stuck des Gebäudes wurde abgeschlagen, die Fassade wurde in einer anderen als der ursprünglichen Farbe gestrichen, und jetzt vernichtet das Penthouse auch noch das letzte bisschen Authentizität. Vielleicht kann mir mal jemand dieses Paradox erklären: Wo das Alte noch da ist, wird es durch das Moderne ersetzt. Und da, wo es verschwunden ist, wird das Alte als Talmi wieder aufgebaut, wie das Hotel Adlon und viele historisierende Bauten in Berlin zeigen.

Vor kurzem ging ich mit einer ungefähr 60 Jahre alten Amerikanerin spazieren. Sie konnte das Echte vom Falschen nicht unterscheiden. Sie konnte das Alter der Gebäude nicht schätzen. Sie verwechselte die fünfziger Jahre mit den achtziger Jahren, die Jahrhundertwende mit 2014, die Kopie mit dem Original. Wahrscheinlich würden unsere europäischen Augen sich nicht so leicht täuschen lassen. Aber die Verwirrung meiner amerikanischen Besucherin hat mich erschreckt.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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