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Berlin: Die krummen Wege der praktischen Vernunft

Früher stand die Erstausgabe von Immanuel Kants Kritik in der Staatsbibliothek Unter den Linden. Dann kamen Krieg, Teilung, Umzüge. 2011 sollen sie ihren endgültigen Platz erhalten. Eine Zeitreise

Der neue Lesesaal wird 40 mal 40 Meter groß, unter ihm entsteht ein Magazin mit dicken Betonwänden und schottenähnlichen Türen, die auch Bränden, Überflutungen, Anschlägen oder Erdbeben standhalten sollen. Heute ist symbolischer Spatenstich, dann gehen die Bauarbeiter auf die wichtigste und teuerste Etappe.

Bis 2011 wird die Staatsbibliothek Unter den Linden 8 für rund 466 Millionen Euro um und ausgebaut (das sind 150 Millionen mehr als der Reichstagsumbau gekostet hat). Für Generaldirektorin Barbara Schneider-Kempf ist es „ein besonderes Glück und auch ein Geschenk, dass wir mit dieser erheblichen Summe rechnen dürfen“ – viele tausend besonders wertvolle Bücher werden dann im Büchertresor an einem der sichersten Orte der Stadt verwahrt. Was überfällig ist, denn die Staatsbibliothek gehört zu den weltweit größten Universalbibliotheken. Sie besitzt oder betreut viele historische Schriften, Notendrucke, Atlanten, alte Landkarten, Handschriften, Autografen oder seltene Erstausgaben von Werken der großen Dichter, Philosophen und Naturwissenschaftler. Unter den vielen Büchern, die ab 2011 im neuen Büchertresor einen Platz finden werden, sind auch zwei Exemplare der Erstausgabe von Immanuel Kants „Critik der practischen Vernunft“. Das Standardwerk wurde 1788 von Johann Friedrich Hartknoch verlegt. An den Wegen, die die beiden Bücher durch Archive und Museen zurückgelegt haben, lässt sich auch die Geschichte der Staatsbibliothek nacherzählen: Als nach elfjähriger Bauzeit 1914 der Neubau der damaligen Königlichen Bibliothek zu Berlin Unter den Linden fertig wird, finden die beiden Raritäten dort einen Platz. Der Architekt Ernst von Ihne hatte den repräsentativen und großen Bau entworfen und ihm in seiner Mitte einen gewaltigen Lesesaal mit Kuppel gegeben. Die beiden Kant-Ausgaben liegen schon damals in einem besonders geschützten Bereich für wertvolle Bücher und Handschriften.

Nach 25 Jahren werden die beiden Kant-Bücher 1939 wegen des gerade begonnenen Krieges verpackt und ausgelagert. In Berlin war davon zwar nichts zu spüren, aber als „prophylaktische Maßnahme sollten sie in Sicherheit gebracht werden“, sagt Andreas Wittenberg, Referatsleiter der Raritäten- und Sondersammlung. Rund 60000 Raritäten und Handschriften treten so ihre Reise in 32 verschiedene Orte im ganzen damaligen Deutschen Reich an. „Man hatte ganz bewusst Klöster und Herrenhäuser weitab von großen Städten und Industrieanlagen ausgesucht“, sagt Wittenberg, „damit sie nicht bei Bombenangriffen auf kriegswichtige Ziele getroffen werden.“

Bei den beiden Kant-Ausgaben gehen die Bibliothekare auf Nummer Sicher und trennen die Bücher voneinander. So wollen sie das Risiko minimieren, dass beide Bücher im Krieg zerstört werden. Ein Buch wird deshalb ins Kloster Beuron an der Donau gebracht, das andere zum fränkischen Schloss Banz. Eine kluge Entscheidung, wie sich 1943/44 herausstellen soll. Dann trafen alliierte Bomben die Bibliothek und beschädigten auch den Kuppel-Lesesaal schwer.

Gegen Ende des Krieges sind Unter den Linden fast keine Bücher mehr zu finden. Nach den Raritäten werden viele weitere tausend Bücher eilends in Sicherheit gebracht, dabei bleibt zuweilen die Sorgfalt auf der Strecke. Manchmal wissen selbst die Bibliothekare nicht, welche Bücher in welchem Depot landen.

Nach Kriegsende werden die beiden Kant-Ausgaben wieder zusammengebracht, ganz so, als wolle man auch für die Bücher wieder Normalität herstellen. Und zu ihnen gesellen sich nach 1946 weitere Bücher aus Berlin. In Marburg an der Lahn wird mit den Berliner Beständen die Hessische Bibliothek aufgebaut. In Berlin nimmt das Haus Unter den Linden unter dem Namen „Öffentlich-Wissenschaftliche Bibliothek“ den Betrieb wieder auf. Der zerstörte Lesesaal wird provisorisch hergerichtet, allerdings ohne die Kuppel. Die Bücherbestände sind arg dezimiert. Rund 335000 Bände haben den Krieg nicht überstanden, sind verbrannt oder durch Bomben zerstört.

Die folgende Teilung Deutschlands und Berlins verhindert, dass die heutige Staatsbibliothek Unter den Linden ihre Bücher wiederbekommt. Im Gegenteil: Die ausgelagerten Bücher bleiben zumeist dort, wo sie gefunden wurden. Bücher und Schätze, die zum Beispiel in Pommern und Schlesien eingelagert werden, gehen nach dem Krieg an die Bibliothek der Jagiellonen-Universität in Krakau. Andere landen in Archiven in der Sowjetunion. 1957 wird die Stiftung Preußischer Kulturbesitz gegründet. Sie ist dabei, eine Bibliothek aufzubauen mit den Restbeständen aus der ehemaligen Staatsbibliothek. Zunächst werden die Raritäten provisorisch gelagert, unter anderem im Keller des Reichstags. Dorthin werden 1964 auch die beiden Kant-Ausgaben gebracht, die man aus Marburg zurückholt. Erst 14 Jahre später baut man für die vielen wertvollen Bücher ein eignes Haus, die Staatsbibliothek nahe dem Potsdamer Platz. Hans Scharoun und Edgar Wisniewski haben das gelbliche Gebäude am Kulturforum errichtet. Hier werden die beiden Kant-Exemplare in einem Sondermagazin der Handschriftenabteilung gelagert. Sie können in einem separaten Lesesaal eingesehen werden. Im Osten der Stadt, hinter der Mauer, ist drei Jahre zuvor der im Krieg beschädigte Kuppel-Lesesaal Unter den Linden gesprengt worden. Er macht Platz für neue Magazintürme.

Und noch einmal spielt die Geschichte, die gemacht wird, auch für die Kant-Bücher eine Rolle. Nach der Wende und dem Abriss der Mauer werden im Jahr 1992 die beiden Erstausgaben von Bibliothekaren vorsichtig in Kisten verpackt. Diesmal ist ihre Reise nicht weit, sie ziehen vom Potsdamer Platz zurück an ihren ehemaligen Aufbewahrungsort. Zwei Jahre zuvor sind die beiden Häuser in Ost- und West-Berlin unterm Dach der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eins geworden.

Während der Bauarbeiten der kommenden Jahre bleiben die beiden Bücher Unter den Linden, und werden nicht, wie zum Beispiel die Zeitungsbestände, in das extra eingerichtete Ausweichlager am Westhafen gebracht. Weil sie empfindlich sind, bestimmte Temperatur und Luftfeuchtigkeit benötigen, was dort alles nicht garantiert werden kann. Jetzt steht den Büchern und der Bibliothek mit dem Magazinbau eine letzte große Veränderung bevor. Wenn die 2011 passiert ist, kann ehrfurchtsvolle Stille einkehren in den Sälen Unter den Linden 8. Dann ist eine lange Geschichte zu Ende.

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