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Berlin: Die neuen Seiten Berlins

Vor 50 Jahren schenkten dieAmerikaner derStadt eineBibliothek:Gerhard Lohmann trägtAusweis Nr.0001

Gerhard Lohmann bekommt am Morgen des 20. September 1954 fürchterliche Zahnschmerzen. Sein Chef bei den Deutschen Wagon- und Maschinenfabriken in Tegel schickt ihn zum Zahnarzt. Lohmann aber macht sich heimlich auf den Weg nach Kreuzberg, zum Blücherplatz. Der junge Maschinenbauer und Ingenieurstudent hat sich in den Kopf gesetzt, der erste Leser der neu erbauten Amerika-Gedenkbibliothek zu werden.

Die Bibliothek wird am 17. September 1954 eröffnet, drei Tage später können die Berliner erstmals Bücher ausleihen. Lohmann trifft eine halbe Stunde vor der Öffnung ein. Mindestens 100 weitere Leser warten schon. Aber während die anderen noch Mäntel und Taschen abgeben, marschiert Lohmann zur Anmeldung, wo er tatsächlich den Leserausweis mit der Nummer 0001 ergattert.

Schon am ersten Tag werden 2850 Bücher ausgeliehen; am Ende des ersten Monats sind es rund 59000 Entleihungen – mehr als die Hälfte des Bestandes von über 111000 Bänden. Der erste Direktor der Gedenkbibliothek, Fritz Moser, erinnerte sich 25 Jahre später: „Am ersten Öffnungstag, einem Montag, glich die Bibliothek einem Warenhaus zu Beginn des Sommerschlussverkaufs.“

Was war so besonders an dieser Bibliothek? Als nach dem Krieg die Nazi-Literatur aus den Beständen entfernt war, standen in den 56 Berliner Volksbüchereien gerade 490000 Bände zur Verfügung. In der Gedenkbibliothek konnte jeder Leser selbst an die Regale gehen und sich aussuchen, was er zu Hause lesen wollte. Jetzt gab es in Berlin die erste Public Library.

Der Bibliotheks-Neubau war ein Geschenk der amerikanischen Besatzungsmacht an die tapferen Berliner: Im Februar 1950, kurz nach dem Ende der Blockade des Westteils der Stadt durch das sowjetische Militär, stellte der amerikanische Hohe Kommissar für Deutschland, John J. McCloy, eine Spende für Berlin in Aussicht. Die Gabe aus dem Marshall- Fonds sollte die Stadt für eine öffentliche Einrichtung ihrer Wahl verwenden. Unter den Vorschlägen, die in amerikanischen und deutschen Kreisen diskutiert wurden, waren ein Konzerthaus für die Philharmoniker, ein Internationales Haus der Begegnung, ein Bibliotheksgebäude für die FU, ein medizinisches Zentrum – und eine öffentliche Bibliothek.

Der Standort am Halleschen Tor in Kreuzberg wurde nicht zuletzt aus politischen Gründen gewählt: Eine Bibliothek am südlichen Ende der alten City, die nun zum sowjetischen Sektor gehörte, sollte wie ein „Leuchtfeuer eines freiheitlichen Geistes“ in den Ostsektor hineinstrahlen.Bis zum Mauerbau im August 1961 wurde die AGB auch von zahlreichen Ostberlinern genutzt. Mit der Schließung der Sektorengrenze verlor die Bibliothek nicht nur etliche Leser, sondern auch den Teil ihres Bestandes, den diese entliehen hatten. Manch einer entschuldigte sich schriftlich, dass er die Bücher nicht zurückbringen konnte. Einige vertrauten sie auch der Post an. Und nach dem Fall der Mauer im November 1989 kam eine ganze Reihe ehemaliger Leser aus Ost-Berlin in die AGB, um ihre Bücher zurückzubringen. Nach der Wiedervereinigung wurde aus der Amerika-Gedenkbibliothek und der alten Berliner Stadtbibliothek die Zentral- und Landesbibliothek mit den Standorten Kreuzberg und Mitte.

Für den anhaltenden Leseransturm reicht schon längst nicht mehr der Platz in beiden Häusern. „Für die halbe Stadt war die AGB richtig“, sagt Claudia Lux, Generaldirektorin der Zentral- und Landesbibliothek, „für das ganze Berlin ist sie einfach zu klein.“ Lux setzt ihre Hoffnung auf die Neugestaltung des Schloßplatzes in Mitte. Was auch immer dort gebaut wird: Sie bewirbt sich für eine Freihandaufstellung von rund einer Million Büchern um eine Fläche von 20000 Quadratmetern.

Gerhard Lohmann, der Leser mit dem Ausweis Nummer 0001, hat hier jahrelang Woche für Woche vier bis fünf Stunden gesessen und sein Maschinenbau- Wissen vertieft und erweitert. „Ich habe sehr viel vom Angebot der AGB profitiert“, erklärt er. Noch heute schwärmt er davon, dass auch Anregungen der Leser berücksichtigt wurden. So hatte er auf ein gerade erschienenes Fachbuch für Maschinenbau hingewiesen – vier Wochen später konnte er es als Erster entleihen.

Der heute fast 80-jährige Gerhard Lohmann will seiner Bibliothek treu bleiben. Der Maschinenbau hat allerdings ausgedient. Jetzt sind es eher seine beiden Hobbys; die ihn in die AGB ziehen: Fotografie und die Kamelienzucht.

Anne Strodtmann

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