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Günter Stahn in dem von ihm mitgestalteten Nikolaiviertel.

© Doris Spiekermann-Klaas

Nachruf auf Günter Stahn (Geb. 1939): „Die Platte ist nun mal der Stein unserer Zeit“

Ein Spaßvogel fand, man könne das Nikolaiviertel doch „Stahnsdorf“ nennen, nach seinem Architekten Günter Stahn. Zu viel der Ehre. Der Nachruf auf einen, der sein Viertel liebte.

Dieser Mann, nicht besonders groß, eher gedrungen und kräftig, mit buschigen Brauen über den wachsamen Augen, durfte nicht fehlen, wenn im Programm von Staatsgästen der DDR eine Besichtigung der Hauptstadt vorgesehen war. „Und jetzt zeigen wir Ihnen unser neues Kleinod“, hieß es dann. Die Kolonne mit den schwarzen Volvo-Limousinen hielt vor der Nikolaikirche, auf Berlins ältestem Boden, und da stand dann er, Dr. Ing. Günter Stahn, Direktor des Berliner Büros für Städtebau, zweifacher Nationalpreisträger, begrüßte die Gäste und führte sie sodann durch sein Werk. Das neu errichtete, sogenannte Nikolaiviertel mit seinen etwa 800 Wohnungen und mehr als 50 Geschäften und Gaststätten. So genannt, weil es ursprünglich gar keinen eigenen Namen trug. Es war einfach der Ort, an dem Berlin begann, zu sein.

Günter Stahn, der Chefplaner des Wiederaufbaus in den Achtzigern, benannte sein Werk nach der Kirche in der Mitte. Ein Spaßvogel fand, man solle es besser nach ihm nennen: „Stahnsdorf“ – aber das wäre doch der Ehre zu viel gewesen.

Kurz nach der Fertigstellung des Prestigeprojekts, im Herbst 1987, führte Stahn also den finnischen Staatspräsidenten Mauno Koivisto durchs Viertel, der am Ende, letzte Seite des Protokolls, in der Gaststätte „Zum Paddenwirt“ landete. Dort wurde ihm und Erich Honecker eine Molle mit Korn serviert. Einer der letzten größeren Besucher, die der stolze Architekt begleitete, war im Februar 1989 Lothar Späth, Ministerpräsident von Baden-Württemberg.

Nach der Wende, als sich die Stadt als Touristenort mit Mauertour darzustellen begann, hielten manche dieses gar nicht alte Nikolaiviertel für ein kitschiges Disneyland, weil die meisten Häuser aus Platten errichtet und mit historisierendem Zierrat versehen worden waren, und das Ganze, abgesehen vom murkeligen Straßengrundriss, nur noch wenig mit dem historischen Stadtkern zu tun hatte.

„Die Platte ist nun mal der Stein unserer Zeit“

In den „Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins“ hieß es 1989 etwas gedrechselt: „Es ist dankenswert, dass eine Kulturlandschaft aus der Öde des Nichts gewollt wurde; mit ihr kann sich der westliche Betrachter, abgesehen von einigen Vorbehalten, identifizieren. Die Vorbehalte liegen in der Erinnerung, dass dieser städtebauliche Zentralraum bis 1945 ein vielfach überschichteter war. Dem neuen Konzept ist eine gedankliche Konstruktion unterlegt worden, was anfechtbar sein kann. So bleibt es abzuwarten, inwieweit der gewisse Bilderbuchcharakter zur ,aktiven Stadtmitte‘ wird.

Die Idee war eigentlich ganz modern: Wohnen, Ausgehen, Einkaufen, alles an einem Ort, und in der Mitte die wieder aufgebaute Kirche St. Nikolai, die älteste Berlins. Wobei Kirche kaum mehr stimmt, denn das Haus mit Turm diente fortan nur noch als Museum und Konzertort. 1991 konstituierte sich hier das erste frei gewählte Berliner Abgeordnetenparlament, ebendort, wo 1809 der erste Magistrat von Berlin vereidigt worden war.

Die im Krieg weggebombte alte Mitte war in den 80er Jahren mühselig neu erstanden. Zum 750-jährigen Stadtjubiläum besaß die Hauptstadt endlich ihren nagelneuen alten Kern. Stadtplaner Stahn, gelernter Maurer, wollte „gutes Altes“ und „gutes Neues“ verbinden. „Die Platte ist nun mal der Stein unserer Zeit“, antwortete er denen, die die Neubauten für etwas vorgefertigt Stupides hielten. Aber er ließ auch mit Kelle und Mörtel bauen; die wenigen rekonstruierten Altbauten sowie die Häuser am östlichen Rand des Viertels sind Stein auf Stein errichtet.

Was neu war, ist längst alt, doch einiges bleibt stehen

Ursula Glanz, eine Freundin des Baumeisters, wohnt seit 1985 in dem Viertel und lobt ihre Umgebung in den höchsten Tönen. Hier kenne jeder jeden, die Hilfsbereitschaft sei grandios. Und jede Begegnung mit dem befreundeten Ehepaar Stahn – die beiden wohnten um die Ecke, gleich gegenüber von der Kirche – sei sowieso ein großer Gewinn gewesen: „Günter war ein Baumensch mit Leib und Seele, voller Leidenschaft.“ Sie habe mal mit den Stahns einen gemeinsamen Urlaub an der Ostsee verbracht; da habe Günter Stahn sich davongemacht, sei nach Schwerin gefahren, um dort einen Mann zu finden, der alte Türklinken für große Tore restaurierte. Solche benötigte er noch fürs Viertel.

Nach dem Tod seiner Ehefrau sei es mit Günter Stahn, der zuletzt in Haselhorst wohnte, körperlich bergab gegangen, er bedurfte häuslicher Pflege. Aber wenn sie telefonierten, sprach er weiter ohne Unterlass über das Berliner Bauwesen, von der Dauerbaustelle des Flughafens bis zum Wiederaufbau des Schlosses – Projekte, die weitaus kontroverser diskutiert werden als sein Werk.

Die Zeit rast dahin. Was neu war, ist längst alt, doch einiges bleibt stehen. Im Falle Stahn etwa die Aufbauten auf den Domkuppeln und das Freizeit- und Erholungszentrum in der Wuhlheide. Und das Nikolaiviertel, „Stahnsdorf“; im Januar wurde es unter Denkmalschutz gestellt. Er hat das nicht mehr erlebt.

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