zum Hauptinhalt

Berlin: Die Schöneberger Insel: Mit dem Blick für das Verborgene

Chaja Boebel mag es, Leute in Diskussionen zu verstricken. Etwa darüber, wie ältere Deutsche zu Marlene Dietrich stehen.

Chaja Boebel mag es, Leute in Diskussionen zu verstricken. Etwa darüber, wie ältere Deutsche zu Marlene Dietrich stehen. Auf einem ihrer neuen Stadtspaziergänge über die "Rote Insel" hatte sie vor kurzem eine solche Diskussion. "Da war ein junger Mann, der konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es immer noch Leute gibt, die ihr die Emigration übel nehmen."

Chaja Boebel ist eine Art alternative Touristenführerin. Die 34-Jährige arbeitet für "Stattreisen", wo Leute nicht abgeschirmt im Bus an Sehenswürdigkeiten vorbei gekarrt werden, sondern zu Fuß die Stadtgeschichte erkunden. Boebels neue Tour "Schöneberger Totentanz - Alltag unterm Hakenkreuz" führt zum Kaiser-Wilhelm-Platz, wo sich 1920 während des Kapp-Putsches die Massen sammelten und sich in der Endphase der Weimarer Republik Nazis und Kommunisten Prügeleien lieferten. Sie zeigt das ehemalige Lokal "Emil Potratz", einen Treffpunkt der Kommunisten in der heutiger Leberstraße, das die SA 1929 mit über hundert Mann überfiel; die Stelle, an der Julius Lebers Kohlenhandlung stand; das Geburtshaus Marlene Dietrichs. Das alte Sozialgefüge auf der Insel interessiere sie, sagt die Historikerin, die Entfremdung zwischen KPD und SPD. Es habe Risse durch Familien und Hausgemeinschaften gegeben. Und das in beengten Verhältnissen, "wo es oft nur drei Toiletten auf dem Hof gab und man beim gleichen Bäcker kaufte". Es gehe ihr auch darum, zu überprüfen, was an der Geschichte der Insel Tatsache ist und was Mythos. "Denn auch die rote Insel wurde irgendwann braun - vielleicht hellbraun mit roten Flecken." An den ersten Stadtspaziergängen über die Insel hätten alte Leute teilgenommen, die in dem Kiez aufgewachsen und später weggezogen seien, erzählt Boebel. Solche Leute "bringen Lokalkolorit mit, während ich die Infos liefere". Anderen Leuten merke man ihre Wissenslücken an. Touristen hätten gefragt, ob die Altbauten in der Leberstraße erst nach dem Krieg errichtet worden seien, weil sie so schöne Stuckfassaden hätten.

Etwa zwei Dutzend verschiedene Rundgänge bietet Chaja Boebel bei Stattreisen an. Nebenher leitet sie Fortbildungsseminare bei der Industriegewerkschaft Metall. Das Schöne an den Rundgängen sei, dass die Leute ins Gespräch kommen. "Das ist politische Bildung auf der Straße", sagt Boebel und schmunzelt.

tob

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false