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Berlin: „Die Söhne sind sozusagen die Ordnungsmacht der Familie“

Sie haben den Prozessauftakt im Gericht verfolgt. Hat Sie das Geständnis des jüngsten Bruders überrascht?

Sie haben den Prozessauftakt im Gericht verfolgt. Hat Sie das Geständnis des jüngsten Bruders überrascht?

Ja. Denn er hat angegeben, aus eigener Entscheidung, unabhängig von der Familie gehandelt zu haben. Das ist unglaubwürdig. Damit reklamiert er ja gerade die Individualität, die es in den Familien nicht gibt, die streng nach dem Islam leben wollen.

Wie erklären Sie sich dann die Aussage?

Es ist die Strategie des Verteidigers. Er hat die Punkte aufgelistet, die deutsche Richter erwarten: Dass ein Täter ein Individuum ist, das seine eigene Entscheidung trifft und sie bereut oder nicht. Aber das geht an der Realität muslimischer Familien vorbei.

Warum?

In Familien, die in dieser Parallelgesellschaft leben, entscheiden die Väter. Sie sind nach der Scharia, dem islamischen Gesetz, die Stellvertreter Gottes in der Familie. Kinder werden zum absoluten Gehorsam erzogen. Die Väter und die Söhne wachen darüber – nicht der Staat oder weltliche Gesetze. Das ist eine innerfamiliäre Sache. Wenn sich ein Familienmitglied dieser Kontrolle entzieht, wie es Hatun Sürücü getan hat, kann die Familie eine Strafe verhängen, bis hin zur Tötung.

Wie kommt ein Bruder dazu, seine Schwester zu töten?

Die Töchter gelten als die Ehre der Familie. Wenn sie nicht gehorchen, ist es besonders schlimm. Die Söhne sind sozusagen die Ordnungsmacht der Familie und müssen dafür sorgen, dass die Strafe ausgeführt und Gehorsam geleistet wird. Besonders der älteste Sohn ist in der Pflicht.

Im Fall Sürücü hat aber der jüngste Sohn die Verantwortung übernommen und nicht der älteste. Ein Widerspruch?

Das habe ich schon öfter beobachtet. Das ist eine rein pragmatische Entscheidung der Familie. Bei dem Jüngsten ist das zu erwartende Strafmaß geringer. An sich aber ist Strafe für einen muslimischen Mann etwas Selbstverständliches. Viele wurden schon als Kind grausam bestraft und haben gelernt, Schmerzen zu ertragen.

Necla Kelek (47) ist Soziologin und Autorin von „Die fremde Braut“. Sie arbeitet an einem neuen Buch über Erziehungsmuster in muslimischen Familien.

Das Interview führte Claudia Keller.

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