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Berlin: Die Wiederentdeckung der Freude

Superintendent Passauer über das Weihnachtsfest

Diese Weihnachtszeit ist prall gefüllt mit Bildern. Weihnachtsmänner klettern Häuser hinauf, Engel schwirren durch die Luft, glitzernde Sterne, Lieder fast zum Mitsingen und immer auf Schritt und Tritt Licht und Lichter. Überall in unserer Stadt werden wir erinnert, dass ein großes Fest beginnt. Selten hat sich unsere Stadt so fantasievoll geschmückt.

Was ist in die Berliner gefahren, dass sie sich so herausputzen und auf einen bestimmten Tag hin leben, der der Höhepunkt des Jahres ist? Anders als sonst bilden sich heute vor den Kirchen lange Schlangen, läuten bis in die Nacht hinein die Glocken, werden wir geradezu angelockt, in fremde Fenster zu sehen, wird überall die biblische Geschichte von Maria und Joseph gelesen und erklingen Posaunenklänge, die die Stille und die Heilige Nacht ankündigen.

Ja, es gibt sie noch, die „Heilige Nacht“ in unserer Stadt. Neben all dem Unheiligen und Unsäglichen, was Menschen im Alltag des Lebens zur Verzweiflung treibt, besinnen wir uns einmal im Jahr darauf, was uns heilig ist. Und wenn uns schon Diskussionen aufgenötigt werden, über die Abschaffung von Feiertagen, nie würde es einer wagen, diese Heilige Nacht abschaffen zu wollen. Die soziale Armut vor Augen, die Folgen von Hartz IV im Ohr, im Sinn die Überprüfung unseres Kontos, die vielen Ämterwege in den Beinen, den Ärger auf der Seele und all das Unerledigte im Kopf, lassen wir uns einmal im Jahr gerne zu Herzen gehen, was die Engel den Hirten auf dem Feld von Bethlehem sagen: „Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren.“

Da kann ja einer das ganze Jahr über sagen, was er will und all die Einsprüche formulieren, die gegen das Christliche des Abendlandes zu sprechen scheinen. Aber dennoch lassen wir uns diese Botschaft der Engel heute und morgen und übermorgen nicht nehmen. Diese Erfahrung, dass letztlich doch nicht selbstverständlich ist, was wir haben und was wir sind, wird uns heute deutlich bewusst. Das ist uns heilig.

Jedes Geschenk, das wir kaufen, erinnert uns daran, dass Menschen, die wir gerne beschenken, ein Geschenk sind, und jedes Geschenk, das wir bekommen, rührt uns deshalb so an, weil wir spüren, wie wichtig wir für andere sind. Die Erfahrung von Furcht machen wir fast jeden Tag. Aber die Erfahrung von Freude überwältigt uns. Furcht und Freude liegen für viele von uns auch in diesen Tagen dicht beieinander. An diesem Abend besiegt die Freude die Furcht. „Fürchtet euch nicht“, sagt der Engel, „denn siehe, ich verkündige euch große Freude.“

Damit ist Leben in seinem vollsten Sinn beschrieben. Und dieses Leben geht auch morgen und übermorgen ähnlich weiter wie vorgestern und gestern – aber es hat einen neuen Akzent bekommen. Es gibt unter uns etwas, was uns heilig ist. Das ist die Wiederentdeckung der Freude. Einer Freude darüber, dass Leben nicht nur an uns hängt. Gott hat sich dazwischengedrängt. Er hat sich in diese Welt gedrängt, damit wir Menschen nicht Gott zu sein brauchen. Weder in Fragen der Gerechtigkeit noch in Fragen der Furcht, weder in Fragen der Arbeitslosigkeit noch in Fragen der Gewalt sind wir Menschen das Maß aller Dinge.

So ist die unverwechselbare Botschaft dieser Heiligen Nacht, dass unsere Welt nicht vergessen ist. Auch wir sind es nicht. Liebe und Hoffnung haben einen Namen und ein Gesicht. Leben, auch in unserer Stadt, hat wieder eine Perspektive. Denn das Licht dieser Tage und Wochen wird nicht ohne Spuren unter uns bleiben. Das ist der Glanz der Heiligen Nacht. Deshalb: Gesegnete Weihnacht.

Martin-Michael Passauer ist Generalsuperintendent der Evangelischen Kirche.

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