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Berlin: Dietmar Bormann (Geb. 1935)

So nüchtern seine Bauten sich auch ausnehmen mochten, er liebte sie.

Kaum eine gemeinsame Autofahrt durch Berlin hat es gegeben, während der Dietmar Bormanns Frau nicht mindestens einmal ausrief: „Guck mal! Da ist ein Kind von dir!“

Am Ende seines Lebens drängten die beiden gemeinsamen Töchter ihn, all seine außerehelichen Kinder einmal zu zählen. Er kam auf einige hundert.

Die Kinder tragen Namen wie „Sparkasse“ oder „Nachtstromspeicherhaus“.

Dietmar Bormann war Architekt, einer, der gerne für Industriebauten oder eben Sparkassen beauftragt wurde. Sein Zeichenstift suchte nicht das Abenteuer. Dietmar Bormanns Entwürfe waren zweckorientiert und grundsolide, ganz dem Geist der Wirtschaftswunderrepublik entsprechend.

Doch so nüchtern seine Bauten sich auch ausnehmen mochten, er liebte sie von ganzem Herzen. Bei jeder Schlüsselübergabe wurde er von Melancholie ergriffen.

Eigentlich, so erzählte Dietmar Bormann manchmal seinen Töchtern, war er immer schon ein Baumeister gewesen. Ungezählte Nachmittage hatte er in der elterlichen Wohnung in Friedrichshain mit seinem Steinbaukasten zugebracht, ein schmaler, ruhiger Junge, der seinen Beton aus Mehl und Wasser anrührte und von den großen Brücken träumte, mit denen er die Menschheit einst beglücken wollte.

Und der viel zu früh erleben musste, dass es keine Mauern gibt, die nicht brechen können. Acht Jahre war er alt, als seine Mutter mit ihm und seinem Bruder aufs Land flüchtete. Land, von dem die Erwachsenen sagten, es sei besser zu den Menschen als Berlin, und das sie keine zwei Jahre später nicht schnell genug wieder verlassen konnten. Zwischen Tausenden wanderte er zurück, westwärts, einen Geldschein im Innenfutter seiner Jacke eingenäht und den Satz der Mutter in den Ohren: Wenn wir uns verlieren sollten, dann treffen wir uns bei der Oma in Berlin. Dann der Bahnhof, auf dem die Mütter erfrorene Kinderkörper abgelegt hatten wie überflüssiges Gepäck – und endlich der Zug. Es war der letzte Zug nach Berlin, und die Erleichterung, ihn erklettert zu haben, mischte sich mit der Ahnung, dass die Erinnerung an die liegen gelassenen Kinderkörper ihn bis ans Ende seines Lebens begleiten würde.

In Berlin hausten sie zu viert in einem Zimmer, erwachten Morgens hinter Türen, die zugeschweißt waren von gefrorenem Kondenswasser. Das, der Hunger und auch der körperlich und seelisch wunde Vater aber waren nicht halb so schlimm wie die Demütigung, in Mädchenschuhen zur Schule gehen zu müssen. So sehr der Krieg ihn auch zur Genügsamkeit und Anspruchslosigkeit erzogen hatte, mit diesen Schuhen an den Füßen sah der Zehnjährige sich seiner Menschenwürde entkleidet.

Er, der Baumeister, wollte nicht länger Brücken bauen, sondern neue und tragfähige Wände einziehen in dieses elende Land. Gartenmauern, hinter denen Löwenmäulchen blühten, und Häuser, in denen es Schuhregale gab, gefüllt mit einer ordentlichen Auswahl für jedes Geschlecht und jede Größe.

Der Beginn seines neuen, soliden Lebens in der neuen, soliden Republik erzählt sich wie der Anfang einer Vorabendserie: Auf dem idyllischen Anwesen „Burg Liebenzell“, wo er als junger Architekturstudent einen neuen Sportplatz errichten half, lernte er die Hauswirtschaftsleiterin Brigitte kennen, die das Knappenhaus leitete. Der große, bescheiden wirkende Mann gefiel ihr sofort, es entstand eine Freundschaft und daraus eine ruhige Liebe.

Obwohl ihr Eigenheim und die gesamte Existenz bald auf denkbar feste Grundmauern gestellt waren, wagte Dietmar Bormann es doch für den Rest seines Lebens nicht, sich darauf auszuruhen. Die Familie musste sich damit abfinden, dass er vom Weihnachtsbaum weggerufen wurde, weil in einem seiner frisch gebauten Häuser die Heizung ausgefallen war, dass er Nachts aus den Kissen sprang, weil ein Dachstuhl brannte, dass sein Sonntagsei erkaltete, weil irgendwo ein Hof unter Wasser stand, dass die Urlaubsreise sich verzögerte, weil er Entwürfe noch einmal neu diskutieren musste.

Manchmal nahm er die Töchter mit auf seine Baustellen. In einem Alter, in dem die Klassenkameradinnen noch ganz in Fantasieschlössern lebten, konnten sie in jeder fremden Wohnung mühelos die tragenden Wände ausfindig machen.

Im Krankenhaus, kurz nach einem Herzinfarkt, bat er als Allererstes um sein Adressbuch mit den Geschäftsnummern. „Das ist fast unheimlich“, sagten die Schwestern nach einigen Wochen, „Herr Bormann verlangt nie etwas. Der klingelt nie.“

Zeit seines Lebens hat Dietmar Bormann eine stille Abneigung gegen alles gepflegt, das mit Krankheit und Tod zu tun hatte. Er, der Architekt, suchte den festen Boden unter den Füßen, hasste das Gefühl der Hilflosigkeit. Er starb daheim, zwischen seinen selbst gezogenen Wänden und Löwenmäulchen, umsorgt von Brigitte und den Töchtern. Anne Jelena Schulte

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