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Berlin: Drei Leichen in 30 Minuten

Der Tag begann ruhig: Routine-Einsätze. Doch dann gab es für die Polizisten von der Sofortbearbeitung einen Alarm nach dem anderen

Ende 2004 werden in Berlin mit seinen 3,4 Millionen Einwohnern vermutlich wieder weit über sechstausend Tote gefunden worden sein, die kriminalpolizeilich bearbeitet werden müssen. „Leichensachen.“ Jeden Tag etwa 17,5, alle anderthalb Stunden eine. Verkehrstote gehören nicht dazu, die bearbeitet der Verkehrsunfalldienst der Schutzpolizei. Leichensachen sind Tote, bei denen ein Arzt auf dem Leichenschauschein als Todesursache „ungewiss“ angekreuzt hat. Dann muss die Kriminalpolizei ermitteln.

Anders als im Fernsehen kommt da nicht der Mordkommissar vom LKA (Landeskriminalamt). Leichensachen bearbeitet die Inspektion VB (Verbrechensbekämpfung) der örtlichen Direktionen. Wer eine Leiche entdeckt, ruft zumeist die 112 (Feuerwehr) oder die 110 (Polizei) an. Letztere schickt einen Funkwagen vom nächsten Abschnitt. Ist schon ein Arzt da und kann der keine natürliche Todesursache bescheinigen, rufen die Schupos über Funk den Lagedienst ihrer Direktion, und der dortige KripoSachbearbeiter schickt eins seiner zivilen Zweierteams raus. VB I ist die kriminalpolizeiliche Sofortbearbeitung für alles von A wie „Abziehen“ bis Z wie „Zimmerbrand“. Leichensachen sind für VB I Routine.

Berlin hat sechs Polizeidirektionen. Die Direktion 3, zuständig für Wedding, Mitte und Tiergarten mitsamt dem Regierungsviertel, ist, was Leichensachen betrifft, ein fast exaktes Mini-Berlin. Dort wohnen und arbeiten etwa 320 000 Menschen, pro Jahr werden etwa 600 ungeklärte Leichname gefunden. Knapp anderthalb pro Tag, knapp einer pro Zwölfstunden-Schicht.

An einem warmen Tag Ende August 2004 ist schon mittags alle statistische Nüchternheit hin. „War ein Samstag, Tagesdienst, also von morgens halb sieben bis abends sieben“, erinnert sich Kriminalhauptkommissar Michael Bölter (41). „Wir hatten morgens ein paar Eigentumsdelikte gehabt, aber alle drei Teams waren wieder drin. Und dann ging’s los!“ Um 13 Uhr 18 der erste Ruf über Funk: „Verdacht Unglücksfall in Wohnung“. Kurz danach rückt Team 1 aus. Um 13 Uhr 33 der zweite Ruf: ein Toter im Hotel. Team 2 fährt um 13 Uhr 40 los. Im Dir-3-Lagedienst in der Kruppstraße steigt die gefühlte Temperatur. Es sind nicht nur die warme Luft, die durch die offenen Fenster an der einen Längsseite hereinweht, oder die ältlichen Rechner und Riesenbildschirme, die den langen Raum zusätzlich aufheizen. Jetzt kommt Adrenalin dazu und Galgenhumor, die besten Schmiermittel für das Uhrwerk aus Präzision und Hochgeschwindigkeit. Natürlich fällt irgendjemandem sofort „Leichen pflastern seinen Weg“ ein. Natürlich recken sich bei jeder Funkmeldung, bei jedem Telefonklingeln ein Dutzend Hälse. Natürlich denkt Bölter jedes Mal, wenn er seinen Hörer abnimmt: „Bei Anruf Mord.“

Und natürlich kommt eine dritte Leichensache. 13 Uhr 47. Ein Toter in einem Puff. Bölter schickt sein letztes Team raus. Wenn jetzt noch irgendwas reinkommt – egal. Dann muss man eben schieben. Vertrösten.

Kriminaloberkommissar Peter Fleischhauer und sein Teampartner sind um kurz vor zwei vor Ort. „Unglücksfall in Wohnung“ ist kein schönes Stichwort. Riecht nach länger nicht entdeckter Leiche. Buchstäblich. Auch diesmal. Eine Wohnstraße im nördlichen Moabit, gut kleinbürgerlich. Spielplätze und Grün. Kinder, die arabisch aussehen, aber christliche Vornamen haben. Auf einer Ecke die klassische Berliner Eckkneipe, auf der anderen ein maghrebinisches Restaurant. Couscous, Tagine, auch zwei Grillhaxen mit allem deutschen Drum und Dran für 7,20 Euro.

Der Tote ist 52. Nachbarn hatten starken Geruch und ungewöhnlich viele Fliegen an seinen Fenstern bemerkt. Die Feuerwehr hatte die Parterrewohnung im Quergebäude geöffnet, der Bereitschaftsarzt den Tod bescheinigt. Fleischhauer findet den Leichnam auf der Toilette sitzend, teilweise mumifiziert. Für die Leichenbesichtigung ist in dem kleinen Raum kein Platz. Der Leichnam wird auf den Flur transportiert.

Fleischhauer ist 41 und hat zwölf Jahre Sofortbearbeitung hinter sich. „Doch, macht mir Spaß – wir sind ja nach der Schutzpolizei die Ersten vor Ort“, sagt er, „und es ist jedes Mal wieder neu.“ Auch so was? „Ja, auch den Geruch wieder in sich aufzunehmen.“ Und wieder loszuwerden? „Ach, man denkt immer, der hängt einem ewig nach. Das sind bloß die Nasenhaare, die den speichern. Da muss man ihn rauskriegen, nicht aus den Kleidern.“

Unappetitlich oder nicht – die entscheidende Frage ist: Lässt irgendwas am Auffindezustand auf Fremdverschulden schließen? Dann ruft VB I nur noch eine Mordkommission und rührt nichts mehr an. In diesem Fall aber war die Wohnungstür korrekt verschlossen, die Toilettentür von innen verriegelt. Weder weist die „Bewirtungslage“ auf eine zweite Person hin, noch hat der Leichnam sichtbare Spuren von Gewalt. Das Todesdatum lässt sich am Ort nicht feststellen. Eine Nachbarin hat noch vor drei Wochen mit dem Mieter vom Erdgeschoss gesprochen. Depressiv sei er gewesen, seit er arbeitslos geworden war. Das abonnierte Magazin im Briefkasten dagegen trägt ein Datum von Anfang Juli.

Peter Fleischhauer nimmt von solchen Einsätzen meistens „Einzelbilder mit, die ich dann wieder aus meinem Leben ausblende.“ Nach Hause nimmt er sie nur selten mit. „Gibt natürlich Ausnahmen. Die bewegen aber sicher nicht nur mich als Kriminalbeamten, die würden jeden bewegen.“ Kinder. Misshandelte, vernachlässigte, tote.

Der Leichnam wird einem Bestatter zur Aufbewahrung für eine mögliche Obduktion gegeben, die Wohnung wieder verschlossen, Angehörige müssen ermittelt und benachrichtigt, der Bericht geschrieben werden. „Gibt so Fälle“, sagt der KOK ein paar Monate später, „da könnte man ein Buch drüber schreiben. Aber das will ja keiner lesen.“ Anschaulich, aber knapp soll es sein. Vor allem für die Staatsanwaltschaft, deren „Hilfsbeamte“ die Kripos seit neuestem nicht sind. Sie heißen jetzt PC-vollendet „Ermittlungspersonen“.

Um 16 Uhr 10 sind Fleischhauer und Partner wieder drin und übernehmen sofort den „Diebstahl mit Waffen und Körperverletzung in Supermarkt“ von 14 Uhr 11. Raus nach Wedding. Drinnen bei Dir 3 LD „fliegen alle um die Lampe“. Bölter und sein Stellvertreter Wolfgang Haack jonglieren gleichzeitig mit Telefonen und Keyboards, drehen sich gegenseitig Monitore zu, weil der eine Computer die ISVB-Abfragen (Infosystem Verbrechensbekämpfung) kann und der andere die beim EWW (Einwohnerwesen), rudern mit einem zufällig freien Arm im Raum, um einem der Funker oder dem Polizeihauptkommissar Frank Thiele (41), ihrem Schupo-Pendant am Tisch, irgendwelche Zeichen zu geben.

Lagedienst ist Arbeiten im Taubenschlag. Pausenlos klingelt es irgendwo, schwirren Meldungen durch den Raum, normale Stimmen oder Funkgekrächze. Der Dienstfernseher ist leise gestellt, aber die Nachrichtenbänder am Bildrand ziehen den Blick an. Es kann immer eine Meldung kommen, die Einsatz erfordert. Wie in der Novemberwoche, als Arafat noch lebte. „Wenn er stirbt“, erklärt PHK Thiele, „schicken wir sofort Beamte zu bestimmten Orten. Melden die uns Unruhe, koordinieren wir in kürzester Zeit Einsatzkräfte, von Zivilen über Funkwagen bis zu den Gruppenwagen der Direktionshundertschaft.“ In der Kruppstraße sitzt auch die Erste Bereitschaftspolizei. Ihre Wasserwerfer kann man vom Fenster aus sehen.

Das zweite VB I-Team trifft kurz nach zwei in einem der teureren Hotels mit Blick auf Spree und Regierungsviertel ein. Ein Stammgast, ein 36-jähriger Geschäftsmann, war nicht bis zwölf Uhr ausgecheckt. Ein Page hatte mal vorsichtig hineingeschaut, zwei Füße auf dem Bett gesehen und geglaubt, der Herr schlafe noch. Um kurz nach eins war der Rezeptionist hochgefahren. Aber für den alarmierten Notarzt gibt es nichts mehr zu tun. Um 14 Uhr 30 nehmen KOK Thomas Wohlan und sein Kollege die Leichenbesichtigung vor. Der Tote liegt nackt auf der Bettdecke, neben sich ein Notebook. Schädeldach und Nasenbein fest, Augen halb offen, Pupillen leicht erweitert. Körper kalt, Leichenstarre vollständig ausgeprägt, Leichenflecken dunkelviolett, nicht wegzudrücken. Die natürlichen Körperöffnungen frei von Fremdkörpern, keine Würgemale oder Einstiche – abgesehen von der Schmetterlingskanüle im Handrücken. Dort sind auch „blutsuspekte Anhaftungen“. So heißt das. Denn ob es Blut ist, können juristisch korrekt Polizisten nicht beurteilen. Überall sind gebrauchte und frische Spritzbestecke, Schläuche, Kochsalzlösung, Medikamente und BTM-suspekte Substanzen. „Nach Fremdeinwirkung sah es nicht aus, nach Selbsttötung auch nicht“, erinnert sich Wohlan, der genauso jung ist wie der Tote auf dem Bett. Acht Jahre macht er jetzt VB I, er hat schon einige Selbstmörder gehabt. „Die sehen anders aus. Für mich sah das hier aus, als wollte er sich einen besonders schönen Abend machen, und der wurde dann sein letzter.“ Sein Bericht wird später, nach Schichtende, auf vier Seiten schildern, was zu ermitteln war, den „Verdacht auf BTM-/Medikamentenintoxikation“ festhalten und die Obduktion empfehlen.

Die Angehörigenbetreuung übernehmen Kollegen eines anderen Bundeslandes. Der LD hat die Polizeidienststelle heraustelefoniert, Wohlan und Partner versehen sie telefonisch mit allen Informationen für die Überbringung der Todesnachricht. Sie werden am Ende gut vier Stunden intensiv mit dieser Leichensache zu tun gehabt haben.

Der Tote im Puff führt natürlich auch zu Scherz und Frohsinn – intern. Gegenüber Betroffenen nie, es sei denn die wollen deutlich lieber einen Spruch zwischendurch als betretene Förmlichkeit. In Berlin kommt so was öfter mal vor. Kriminalkommissar Thomas Hecht gibt sofort zu: „Also, ehrlich gesagt, war auch mein erster Gedanke: Was für’n schöner Tod! Als Mann?“ Der Puff, in dem er und seine Kollegin kurz nach zwei stehen, ist keiner für betuchte Connaisseure. Zwei Zimmer parterre in einem Mietshaus mit bröckelndem Putz und vernagelten Fenstern, die früher mal Schaufenster waren. Tante Emma hat hier keinen Laden mehr, dieses Stück Wedding ist nur noch schäbig und versifft.

Um 12 Uhr 31 hatte Madame Herma die 112 gerufen, um 12 Uhr 35 war der Rettungswagen da, um 12 Uhr 43 der Notarztwagen. Der 49-jährige Gast konnte trotz dreiviertelstündiger Reanimation inklusive Defibrillator nicht zurückgeholt werden. Er liegt in Unterhose und Socken quer im engen Flur, mit dem Tubus im Mund, den kleinen Brandmarken vom „Grillen“ auf der Brust und der Einstichstelle für den Herzkatheter im Hals. Er ist seit knapp zwei Stunden tot. Der Notarzt hält einen Infarkt für das Wahrscheinlichste. Um zwölf soll der Gast erschienen sein, sagt Rosi, eine der beiden, die für Madame anschaffen. Anlehnungsbedürftig sei er gewesen, ansonsten normal und vital. Und einer von der schnellen Sorte. Aber mitten im Ejakulationsvorgang sei er plötzlich hochgeschossen, habe merkwürdige Laute ausgestoßen und gekeucht, dann sei er wieder aufs Bett gesackt und weggewesen.

„Die Frau war völlig durcheinander“, erzählt Hecht, „die fühlte sich schuldig. Also, die Angst konnten wir ihr dann nehmen.“ Rosi sagt, sie sei den ersten Tag da. Aber auch Madame und Gerdi, die zweite Mitarbeiterin, wollen den Gast nie vorher gesehen haben. „Tod beim Orgasmus“ ist einfach keine gute nachhaltige Werbung für Huren. Stammgäste kann man damit kaum gewinnen.

„Leichen sind natürlich auch bei der Polizei nicht jedermanns Sache“, sagt der 36-jährige KK, der seit zwei Jahren fest bei VB I arbeitet. Er kommt damit klar. Er war bisher nur einmal hart an der Kante. Da musste er einer Mutter den Tod ihres jugendlichen Sohnes beibringen, am Muttertag. Und den Notarzt rufen. Für sie.

Drei Leichen in dreißig Minuten und nirgends ein Täter. Tötungsdelikte kommen weiterhin vergleichsweise selten vor in Berlin – rund hundertmal im Jahr. Von den über sechstausend Leichensachen sind gut fünfzig Selbsttötungen. Bei VB I müssen alle Kripos nach der Ausbildung mindestens ein halbes Jahr Praxis lernen. Für Schutzpolizisten, die nach ihrer Ausbildung nicht in eine geschlossene Einheit, sondern auf einen Abschnitt gehen, gehören Leichensachen zum Alltag. Sie sind auch die Ersten vor Ort. Polizeihauptmeister Dirk Matthes (38) ist Funkwagen gefahren, bevor er Funker beim Lagedienst wurde. „Ich hatte alles – von Wasserleiche bis Verkehrsunfall“, erzählt er. Und immer wieder Wohnungen von „Messies“, in denen sich unter Bergen von Müll mumifizierte Tote finden. „Aber ich hab ein Faible für Gerichtsmedizin. Was man da im Nachhinein noch ermitteln kann – faszinierend!“ Auch für seinen quirligen Arbeitsplatz hat Matthes ein Faible. „Eine ruhige Schicht“, grinst er, „ist schlimmer als zwölf Stunden unter Dampf. Aber ich hab ja von Hause aus ein Gemüt wie ein Schaukelpferd. Sagen alle. Bis mich was aus der Ruhe bringt, das dauert sehr, sehr lange.“

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