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Berlin: Ein Ballspiel so schön wie Musik

Ilhami Sezen verehrte die deutsche Elf und hätte 1954 gern für die Türkei gespielt. Doch er wurde krank, verlor sein Gehör und entdeckte die Kunst

Als Ilhami Sezen wie die ganze Welt am 4. Juli 1954 vor dem Radio saß, um das WM–Finale Deutschland gegen Ungarn zu verfolgen, konnte er keinen Ton hören. Er war taub. Fernsehen gab es damals nicht, zumindest nicht in der Türkei. Seine Kameraden mussten übersetzen. Mit Zeichensprache gestikulierten sie für ihn im Vereinszimmer des Büyüklänga Sportclubs in Istanbul, das meiste konnte er aus ihren Gesichtern lesen: Spannung, Erstaunen, Begeisterung. Als die Deutschen unerwartet gewannen, 3:2 mit dem legendären Tor von Rahn, „Tor, Tor, Tor“, etwas Ähnliches rief auch der türkische Sportreporter, da konnte Ilhami Sezen das Getöse nicht hören, war aber als einer der Wenigen nicht überrascht. Er nickte nur wissend.

Mit vorauseilendem Patriotismus hatte das nichts zu tun. Dass er einmal deutscher Staatsbürger werden würde, dass es ihn überhaupt nach Deutschland verschlagen würde, nach Neukölln, konnte er noch nicht einmal ahnen. Sezen hatte nur die deutsche Elf in Istanbul erlebt, 1951 gegen die Türkei. Hatte die ganze Nacht vor dem Dolmabahce Stadion verbracht, um eine Karte zu ergattern. 2:0 war es ausgegangen, für die Deutschen, und er, der Fußballbegeisterte, war ab der ersten Minute Fan: Horst Eckel, Fritz Walter, Helmut Rahn. „Ein Ballspiel so schön wie Musik“, erinnert er sich. Er ist 70 inzwischen, aber von dem Spiel 1951 hat er nicht eine Minute vergessen. Vielleicht, weil ihn noch etwas verbindet mit den Deutschen: Ihre große WM hätte auch seine sein können. Beinahe wäre er dabei gewesen.

In den Straßen von Istanbul spielte er als Junge jeden Tag bis in die Dämmerung, mit Bällen, die aus Lappen genäht waren, auf buckeligem Straßenpflaster. Mit fünfzehn wurde er vom Clubpräsidenten von Fenerbahce Istanbul für die Nachwuchsmannschaft entdeckt. Der wohnte zufällig im Haus gegenüber. Du bist unser größtes Talent, habe sein Trainer gesagt, du erinnerst mich an diesen Pele aus Brasilien. Du wirst Nationalspieler. Doch Ilhami Sezen hatte Pech. Es war eine Sache von Sekunden. Er brach sich mit 15 bei einer Rempelei auf dem Platz das Hüftgelenk, bekam im Krankenhaus wegen falscher Behandlung eine Hirnhautentzündung, wurde erst für drei Monate vorübergehend blind und dann taub. Lag im weißen Stahlbett, ein magerer, blonder Junge, und wollte sterben. Das war 1950. Ein Jahr später sah er das Spiel Deutschland – Türkei, und nach drei Jahren begann er selbst wieder zu trainieren. Es ging ganz gut, du bist fast der Alte, sagten die Kameraden, trotz der Taubheit. Aber das linke Bein blieb auf Dauer kürzer als das rechte. Und das bedeutete dann das Aus.

Mit etwas Übung kann man ihn gut verstehen, wenn er spricht. Ilhami Sezen hat im Internat des Goethe-Instituts Deutsch gelernt, trainiert die Gebärdensprache, und Türkisch kann er mühelos von den Lippen ablesen. Den Rest der Kommunikation erledigt er schriftlich, viele kleine Zettel mit Frage und Antwort wurden so in seinem Leben hin- und hergereicht, das Faxgerät ist ständig im Einsatz. Doch sein wichtigstes Ausdrucksmittel ist die Kunst: 1200 Aquarelle hat er in seinem Schlafzimmer gelagert, sein Gemälde „Saba“ wurde beim Lucas-Cranach-Preis ausgestellt, und im „Europäischen Künstlerlexikon“ gibt es einen lobenden Eintrag über ihn. Wie so oft in den letzten Jahren bereitet er auch jetzt eine Ausstellung vor.

Ein Zufall hat ihn in den sechziger Jahren nach Deutschland geführt, denn er wollte in die Schweiz, hoffte wegen seiner Taubheit auf die Leistungen der Schweizer Medizin. Doch sein Bus durfte die Grenze nicht passieren, also blieben die türkischen Arbeiter in München, schufteten auf dem Bau, mit Spitzhacken mussten sie den gefrorenen Boden traktieren und wohnten zu acht in Doppelstockbetten in einer schlecht geheizten Baracke. Später zog er nach Berlin. Er hatte viele Berufe in seinem Leben: Maschinenanstreicher, Schneider, Kabelleger, Bauhelfer, Kraftfahrer, Möbeltischler.

Eine Zeit lang wertete er als Senatsangestellter vertrauliche Akten von Zwangsarbeitern für die Mikroverfilmung aus. Heute ist er ein Künstler. Aber eigentlich, sagt er, bin ich immer Fußballer geblieben. Die türkische Mannschaft gewann bei der Weltmeisterschaft ’54 in der Vorrunde gegen Korea 7:0. Gegen Deutschland hat sie zweimal verloren, beim zweiten Spiel sieben Tore kassiert. Vielleicht wäre das anders geworden, wenn er mitgespielt hätte? „Die Deutschen waren unschlagbar“, schreibt Ilhami Sezen aufs Papier und lacht, na gut, vielleicht wären es ein paar Tore weniger geworden.

Kirsten Wenzel

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