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Berlin: Ein offenes Fenster nach Westen

Für viele DDR-Bürger war die Ständige Vertretung der Bundesrepublik ein Ort des Gedankenaustauschs – und für manche auch ein Weg in die Freiheit

Der junge Mann tut, als beachte er die Volkspolizisten nicht. Schnellen Schrittes läuft er über die Hannoversche Straße, direkt auf das fünfstöckige weiße Gebäude zu. Als sich die Eingangstür hinter ihm schließt, weiß er: Nichts und niemand wird ihn daran hindern, den Ort zu verlassen. Er ist zwar noch im Osten, aber dieses Haus im Bezirk Mitte ist eigentlich der Westen. Hier befindet sich seit dem 14. März 1974 die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR. Zeitgleich war eine Ständige Vertretung der DDR in Bonn eröffnet worden.

Nicht Botschafter, sondern „Ständige Vertreter“ nannten sich die mit allen protokollarischen Ehren ausgestatteten Missionschefs. Günter Gaus hatte für die Bundesrepublik den Anfang gemacht, ihm folgten Klaus Bölling, Hans-Otto Bräutigam und zuletzt Franz Bertele. Ihnen standen im „weißen Haus“ in der Hannoverschen Straße 30 fast 90 Mitarbeiter zur Seite. Die Bonner Beamten versuchten einerseits, die DDR in all ihren Facetten zu verstehen, andererseits mit Ausstellungen, Lesungen, Empfängen in die DDR hineinzuwirken, ganz im Sinne der Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs und des „Wandels durch Annäherung“, der von den DDR-Oberen so gefürchtet wurde. „Hier tat sich ein Fenster nach Westeuropa auf“, erinnert sich Thomas Krüger, damals in Ost-Berlin in der „Kirche von unten“ engagiert, heute Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Ihm haben die Begegnungen, zu denen er in die Vertretung geladen war, „immer viel gegeben“, weil sie auch den Gedanken an die gemeinsame Vergangenheit und Zukunft von Ost und West wachgehalten hätten.

Die Geschichte des Hauses, in dem sich heute der zweite Dienstsitz des Bundesministeriums für Bildung und Forschung befindet, reicht weit zurück: Der Bau entstand 1914 als Kaserne für ein Grenadier-Regiment, in der auch der junge Lyriker Hans Leip diente. Im April 1915 schrieb er in dieser „Kaserne vor dem Oranienburger Tor“ das berühmte Soldatenlied von „Lili Marleen“. Im Zweiten Weltkrieg brannte das Gebäude aus, wurde 1947 für das Institut für Bauwesen aber wieder aufgebaut. Der Architekt Hans Scharoun setzte ein lichtes Dachgeschoss auf den Bau, hier diskutierten Ende der vierziger Jahre Hermann Henselmann, Richard Paulick und Hanns Hopp ihre Pläne für die Stalinallee, für Eisenhüttenstadt und für den Wiederaufbau der Staatsoper und der „Linden“.

40 Jahre später, im heißen Sommer 1989, erlebte das Haus mit dem Bundesadler an der Tür dramatische Tage und Nächte. Eberhard Grashoff, von 1980 bis 1990 Pressesprecher der Ständigen Vertretung, erinnert sich: „Wir waren immer stolz darauf, ein offenes Haus zu sein. Deshalb befand sich direkt hinter dem Eingangsbereich ein Wartezimmer, da saßen unsere Besucher aus Ost und West einträchtig nebeneinander und warteten, bis sie aufgerufen wurden, um ihr Anliegen vorzutragen. Im Sommer 1984 hatten wir dann aber ein Problem: Plötzlich kamen mehr als 30 Besucher aus der DDR, die sich weigerten, das Haus zu verlassen. Es waren Ausreisewillige, die von Deutschland nach Deutschland wollten. Wagemutige, Verzweifelte. Menschen, die die Nase gestrichen voll hatten von der DDR. Die manchmal nicht mal eine Zahnbürste bei sich trugen und die sich nicht rausquatschen ließen.“ Es wurde an der rechten Seite des Hauses ein neuer Eingang mit einem Vorraum gebaut, doch auch dorthin kamen „Zufluchtswillige“, wie sie genannt wurden. „Unser Gewährsmann war Rechtsanwalt Vogel, mit seiner Hilfe haben die Leute schließlich ihr Ziel erreicht, allerdings nur, wenn sie zunächst wieder nach Hause gegangen sind.“

Der große Ansturm kam im Sommer 1989. Menschen, die sich noch nie gesehen hatten, Familien, Singles, Frauen mit Kindern lebten auf engstem Raum, unterm Dach, im ganzen Haus, Matratze neben Matratze. „Wir haben vom Spielzeug bis zum Milchpulver alles Mögliche gekauft, es kamen Psychiater, Angestellte gaben Englischunterricht oder hielten Vorträge zu Rechtsfragen im West-Alltag. Wir haben alles improvisiert. Und saßen in der Festung.“ Als schließlich 139 Gäste im Haus waren, vom Lehrer und Arzt bis zur Putzfrau, „ging wirklich nichts mehr“, erzählt Grashoff. „Unser Chef war irgendwo in Norwegen im Urlaub, und wir beschlossen, die Vertretung am 8. August zu schließen. Was wäre gewesen, wenn am nächsten Morgen Hunderte in der Hannoverschen Straße gestanden hätten?“

Honecker lag im Krankenhaus. Und für Mielke gab es zwei Möglichkeiten: Lasst die schmoren – oder die Volkspolizei holt die Leute da raus. Beides ging nicht auf: Erst am 8. September 1989 kamen die Anwälte Wolfgang Vogel und Gregor Gysi mit dem Angebot, alle 139 „Botschaftsflüchtlinge“ sollten straffrei ausgehen und in drei Monaten ihre Ausreisepapiere bekommen. So geschah es.

Eberhard Grashoff traf nach der Wende durch Zufall in einem Magdeburger Hotel jenen Mann wieder, der die Zufluchtsuchenden vier Wochen lang bekocht hatte. „Ahnen Sie, wann ich meine Ausreisepapiere bekommen habe?“ sagte er. „Genau am 9. November ’89.“

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