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Berlin: Ein Tornado in Charlottengrad

Das Programm: eine Weltreise. Wer einsteigt, gerät in eine mentale Zentrifuge.

Das Programm: eine Weltreise. Wer einsteigt, gerät in eine mentale Zentrifuge. Das Thema katapultiert den Neugierigen aus der lokalen Schwerkraft heraus. Der erste Termin der 13. Jüdischen Kulturtage ist ein Vortrag im Centrum Judaicum. Lila Stühle, Tee, Spekulatius. Eine Organisatorin, die - während der Kulturwissenschaftler Joachim Schlör von der Geburt des Zionismus in den Cafés des alten Odessa berichtet - herumläuft wie ein aufgeregtes Huhn. Den Zuhörern werden poetische Zitate jener Pioniere, die sich vor über 100 Jahren in der aufgeklärten Hafenstadt am Schwarzen Meer den freien Judenstaat erträumten, ins Russische übersetzt; Fotos der würdigen Herren, welche sich schließlich in den Cafés von Tel Aviv wiederfinden sollten, werden projeziert. Abschied, Heimat, Emigration; Rußland, Israel: Das Thema der Kulturtage provoziert wechselseitige Projektionen; in Odessa, sagt der Referent, sei die Symbiose Judentum / Modernität gelungen. In diesem (zitiert er den Journalisten Vladimir Jabotinsky) "Tornado von einer Stadt", wo "jede Straßenecke mit der ganzen Welt verbunden ist."

Das Gesicht dieses Tornados, dessen Sehnsuchtslegende sich durch seine Auswanderer über den Globus verbreitet hat, zeigt im Gemeindezentrum an der Fasanenstraße eine Austellung der Fotografen Yuri Boiko und George Isayev. Allerdings gleicht ihr Präsentationsort, das Foyer, eher der Passage eines Wirbelsturms. Neben der Tür Polizistenpulte, neben Fotos die security-Schleuse; vor der Wand das Modell der Heinz-Galinski-Schule, Moses Mendelssohns lädierte Büste; gegenüber Monitore des Internetcafés. Und dazwischen, als sei dieses Rumpelchaos eine Installation, Impressionen aus der bröckelnden Metropole am Rande der alten Welt.

Das letzte Foto zeigt die Kameramänner prostend im odessitischen Freundeskreis an der Datschen-Tafel - dieser Blick aufs intime Nischenparadies leitet über zur Ballroom-Premiere im Gemeindesaal. Das opening der von Alexander Shurbin und Irini Ginzburg moderierten Show-Reihe im mit Herbstbäumen, Stadt-Panorama, Hafenbar und Hinterhof-Utensilien lauschig dekorierten Gemeindesaal heißt "Odessa is evereywhere". Ein Heimatabend bricht an: Das Amüsiertemperament der russischen community macht es den aus New York eingeflogenen Gastgebern leicht. Der komponierende Pianist zelebriert mit rauchiger Stimme Entertainment-Kribbeln alter Schule; seine Frau, TV-Showmasterin und Sängerin, denkt leider zu lange, sie sei selber Tina Turner. Dabei sollte sie exotischen Gästen die Bühne bereiten: der Gruppe Migdal Or. Vier Frauen im Glitzerkleid, begleitet von Musikern unter lederner Ballonmütze. Power und Charme, lockendes Lächeln, naive Tanzgesten. Schmalz, Emphase, bißchen sentimentales Pathos vom Grenzort vor der Steppe: Odessa ist in Charlottengrad.

"Ich habe eine nachdenklichere Rede aufgeschrieben bekommen, die lasse ich angesichts des vergnügten Ambientes besser in der Tasche," sagt Staatsekretär von Pufendorf, dessen Behörde das Festival finanziert, zur Ballroom-Eröffnung, und erinnerte an seine Freundschaft mit Gemeindechef Nachama: "Damals entstand die Idee der Topographie des Terrors. Diese von Anfang an sehr herzliche Verbindung haben wir nie unterbrochen." Das Mißverstehbare der Sätze paßt in seiner Angestrengtheit auch ins Obere Schiller-Theater-Foyer, wo nach dem Gesher-Theater-Gastspiel aus Tel Aviv Israels Botschaft zum Umtrunk lädt. Verklemmung. Grußreden am einsamen Mikro. Umtrinker halten Distanz. Völkerfreundschaft? Dem Theaterstück hatte Isaak Babels Erzählung eines Beinah-Vatermords zugrundegelegen: "Sonnenuntergang". Dabei leuchten die farbigen Foyer-Scheiben, als dämmere draußen der Morgen.Am 13. 11. im Schiller Theater: 19 Uhr 30 (in russischer Sprache, mit Simultanübersetzung).

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