zum Hauptinhalt

Berlin: „Eine humanitäre Katastrophe, die keiner wahrhaben will“

Buch-Autor Markus Breitscheidel über die Zustände in Krankenhäusern und Pflegeheimen

Ein alter Mensch verschwindet und wird später tot aufgefunden, ein anderer stirbt an Verbrühungen. Überrascht Sie das?

Mich überrascht nichts mehr. Ich habe zwei Jahre lang in fünf verschiedenen Einrichtungen gearbeitet und zeitweise allein 26 Menschen betreut – ohne Ausbildung als Pflegekraft. Wenn über drei, vier Tage nicht auffällt, dass ein Mensch fehlt, kann man sich vorstellen, was da für eine Hektik herrscht. Im Durchschnitt muss ein Pfleger 20 Patienten „abarbeiten“, wie es im Branchenjargon heißt.

Wie sieht das aus?

Um zehn Personen mit Mittagessen inklusive Getränk zu füttern, hat ein Pfleger 30 Minuten Zeit. Oder man lässt das Wasser in die Wanne ein, muss parallel einen anderen versorgen, und merkt nicht, dass das Wasser viel zu heiß ist. Zeit, es abkühlen zu lassen, hat man nicht. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat festgestellt, dass bundesweit täglich 300 000 Menschen unterversorgt sind. Aber das liegt nicht an sadistischen Pflegern, sondern an den Rahmenbedingungen. Es gibt eine humanitäre Katastrophe, die keiner wahrhaben will.

Wieso reichen die Besuche der staatlichen Heimaufsicht, der Prüfbehörde, nicht aus?

Auch sie sind chronisch unterbesetzt, zwei Bewohner pro Besuch, mehr können sie nicht begutachten. Oft wird die Krankenakte mehr auf Genauigkeit geprüft als der zu pflegende Mensch. Aber Papier ist geduldig. Mein Hauptanliegen wäre, dass die Prüfbehörde unangemeldet kommt. Dekubitus, also wund gelegene Stellen, Vertrocknung, das ist an der Tagesordnung. Und eine Überdosierung an Medikamenten, mit denen die Bewohner ruhig gestellt werden sollen. Wer regelmäßig Psychopharmaka bekommt, bei dem verändert sich auch der Orientierungssinn. Das heißt, er verläuft sich auch leichter.

Und abgesehen von der Unterbesetzung?

Das Problem ist, dass heutige Heime meist im Krankenhausstil gebaut sind: lange Gänge, uniforme Zimmertüren, alles sieht gleich aus. Demenzkranke können sich so nur schwer orientieren.

Gibt es technische Möglichkeiten, die verhindern, dass Bewohner verschwinden?

In einigen Einrichtungen gibt es längst Sensoren, die melden, wenn jemand durch eine Tür geht. Gerade diese optischen oder akustischen Signale haben sich bewährt. Bei Einrichtungen für Demenzkranke sollte das meiner Meinung nach zum Standard gehören.

Markus Breitscheidel arbeitete ein Jahr lang als Pfleger. Darüber hat er das Buch „Abgezockt und totgepflegt“ (Ullstein) geschrieben. Anne Haeming sprach mit ihm.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false