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Berlin: Eine träge, aber gute Mutter

Sozialarbeiterinnen über die Frau, die ihr Kind verdursten ließ

AUS DEM GERICHT

„Ich erinnere mich, wie sie ihn liebevoll angesehen hat“, sagte eine Zeugin. Eine andere: „Ich hatte das Gefühl, dass das Grundgefühl zum Kind stimmig ist.“ Beide Sozialarbeiterinnen zeigten sich vor Gericht fassungslos über das, was dann geschah. Gab es irgendwelche Signale für das furchtbare Verhalten der Mutter? Haben „die Ämter“ etwas versäumt? Gestern wurden im Mordprozess gegen Veronika W. vor dem Landgericht mehrere Behördenmitarbeiter als Zeugen befragt.

Die 22-jährige Veronika W. hatte an einem Abend im November vergangenen Jahres ihren zweijährigen Sohn Alisan-Turan verlassen. Sie zog die Tür des stockfinsteren Kinderzimmers zu und verschloss die Wohnungstür. Sie kehrte nicht wieder in ihre Wohnung an der Wetzlarer Straße in Wilmersdorf zurück. Als der kleine Junge nach Beschwerden von Nachbarn über den Gestank am 5. Januar gefunden wurde, hockte er zusammengekauert in einer Ecke. Er war zwischen Bergen von Müll qualvoll verdurstet, sein Körper mumifiziert. Die Anklage geht davon aus, dass die Mutter ihren Sohn loswerden wollte. Weil sie in ihm seinen Vater sah, weil er sie störte, wenn sie durch die Kneipen ziehen wollte.

Veronika W. wurde bis März 2001 von verschiedenen Behörden betreut. Das Jugendamt kümmerte sich um sie, eine Bewährungshelferin hatte regelmäßigen Kontakt. Im Oktober sei Veronika W., die wegen eines Drogendelikts unter Bewährung stand, bei ihr erschienen, sagte die Bewährungshelferin. „Da war Veronika, die sonst so ruhig war, sehr mitteilsam, aber nicht überzogen.“ Beim letzten Mal sei sie ohne den Sohn erschienen. Insgesamt habe Veronika W. den Eindruck hinterlassen, dass sie eine gute Mutter war.

„Der Kleine war so ein Sonnenschein, ich hatte ein sehr gutes Gefühl, wie sie mit Ali umging“, sagte eine weitere Sozialarbeiterin, die Veronika W. sei Herbst 1999 kennt. Da war sie – obdachlos und schwanger – ins Frauenhaus gegangen. Die Angeklagte bekam Hilfe und schließlich eine eigene Wohnung. Insgesamt sei es aber eine „sehr wechselhafte Betreuung“ gewesen. Oft habe Veronika W. einen vereinbarten Termin abgesagt und erklärt: „Ich brauche eine Auszeit.“ Sie habe oft träge und phlegmatisch gewirkt, manche Dinge wie das Bezahlen der Miete nur schleppend erledigt. Mehrere Sozialarbeiter hatten jedoch den Eindruck, dass die Angeklagte durchaus durchsetzungsfähig war. „Wenn ihr etwas wichtig war, wenn es um ihre Vorteile ging“, sagte eine der Zeuginnen. Dann habe sie sogar „rücksichtslos“ gewirkt.

In einem Abschlussbericht zu der von Veronika W. nicht mehr gewollten und von den Ämtern nicht mehr für notwendig gehaltenen Betreuung aber merkte eine Sozialarbeiterin an, dass die junge Mutter möglicherweise depressiv sei und eine Therapie benötige. War die Angeklagte, die Drogen genommen und unter „schweren Depressionen“ gelitten haben will, tatsächlich nicht oder nicht voll schuldfähig? Auch das müssen die Richter entscheiden.

Kerstin Gehrke

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