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Berlin: Ellen Marx (Geb. 1921)

Die Argentinier nennt sie „die Hiesigen“.

Buenos Aires im August 1999, Stadtteil Belgrano, eine kleine schmale Frau springt auf einen Bus, der kaum bremst. Die Frau ist 78 Jahre alt. Sie gönnt sich kein Straucheln, kein Zögern, kein Taxi; immer fährt sie mit dem Bus. Diesmal zu einem Treffen der Mütter der deutschen Verschwundenen in Argentinien. Die Gruppe trifft sich, um über Strafverfahren gegen argentinische Militärs in Deutschland zu beraten.

Ellen Pinkus wird 1921 in Berlin geboren und wächst in der Oranienburger Straße auf, spielt im Monbijou-Park. Später zieht die Familie nach Charlottenburg.

Ellen ist 18, als sie ein Visum erhält, das ihr die Einreise nach Argentinien erlaubt. Sie ist eine Jüdin auf der Flucht vor den Nazis. Die meisten Länder haben ihre Grenzen schon dicht gemacht. Ellen lässt ihre Eltern zurück, in dem Glauben, dass sie bald nachfolgen können. Über ihren kranken Vater kann sie später sagen, er sei noch im Bett gestorben. Die Mutter wird in Auschwitz ermordet. Das erfährt Ellen Jahrzehnte später: Der Name der Mutter steht auf einer Liste in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem.

Auf dem Schiff, auf der Flucht, erkrankt Ellen an Skoliose. Die Krankheit bleibt unerkannt und unbehandelt. Ellen behält einen gebeugten Rücken, über den sie nie klagt.

Alle in der Gruppe der Jugendlichen, mit der sie Buenos Aires erreicht, sehnen sich nach einem zu allererst, nach Normalität. Die meisten heiraten schnell und gründen Familien. Ellen Pinkus trifft Erich und wird Frau Marx. Sie bekommt vier Kinder. Was sie von ihrer Mutter gelernt hat, gibt sie nun weiter: Dass es wichtig ist, sich um Schwächere zu kümmern, Solidarität zu üben und durch kleine Gesten das Leben schöner und leichter zu machen. Dass Jammern nicht hilft.

Buenos Aires ist eine brodelnde, anstrengende Stadt. Ellen arbeitet als Betreuerin, erst in einem Kinderheim, dann in der jüdischen Gemeinde. Sie bleibt Zeit ihres Lebens der deutschen Kultur verbunden, sie spricht bis zuletzt ein wunderbares Deutsch. Die Argentinier nennt sie „die Hiesigen“, als würde sie selbst nicht dazugehören.

Heimisch wird sie erst, als sie sich auf die Suche nach ihrer verschwundenen Tochter Nora macht. 1976 wurde die von argentinischen Militärs entführt und in einem geheimen Lager gefangen gehalten. 30 000 Menschen kommen während der Zeit der Militärdiktatur ums Leben. Nora hat in einem Elendsviertel von Buenos Aires gearbeitet. Sie engagierte sich für die Ärmsten. Als Ellen erfährt, dass ihre Tochter verhaftet wurde, wird sie zu einer der „Mütter der Plaza de Mayo“, jener Frauen, die auf dem zentralen Platz von Buenos Aires gegen das Verschwinden ihrer Kinder protestieren und bis heute auf Aufklärung drängen. Die Suche nach ihrer Tochter Nora bestimmt fortan Ellens Leben. Sie wird Nora nie finden.

Als die Diktatur 1983 am Ende ist, hofft Ellen, dass die Verantwortlichen bestraft werden. Doch Amnestiegesetze schützen die Folterer und Mörder. Ellen reist mehrmals nach Deutschland, mit Hilfe eines Rechtsanwalts erstattet sie in Berlin Strafanzeige gegen argentinische Militärs. Sie wird von der Justizministerin empfangen. Aber die Verfahren ziehen sich hin. Zu einer Anklage kommt es in ihrem Fall nicht.

Ellen aber ist preußisch diszipliniert, für Selbstmitleid reicht ihre Zeit nicht. Sie trifft andere Deutsche, deren Angehörige verschwunden sind, sie hilft ihnen bei der Suche nach Unterlagen für die Verfahren in Deutschland. Und sie kümmert sich auch um diejenigen, die an Depressionen leiden und an dem Erlebten zerbrechen.

Bald kommt sie nicht mehr nur wegen der Verfahren nach Deutschland, sie hat hier Freunde gefunden. Sie sagt, dass sie die nachfolgenden Generationen nicht verantwortlich machen könne für das, was ihr und ihren Eltern angetan wurde. Dem Jüdischen Museum in Berlin übergibt sie Erinnerungsstücke der Familie.

2005 zieht sie in ein Seniorenheim bei Buenos Aires, in dem sie zuvor jahrelang gearbeitet hatte, als das Heim noch eines für Kinder war. Sie genießt den Park und die Vögel, sie arbeitet in der Bibliothek des Heims. Im September erleidet sie einen Schlaganfall, nur zwei Tage später stirbt sie. Tonja Salomon

Tonja Salomon

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