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Berlin: Erich Schwarz (Geb. 1938)

Wer Fried und Jandl vorliest, kann nicht Tütensuppen preisen

Eine Szene aus „Pappa ante Portas“: Heinrich und Renate Lohse sitzen mit ihrem Sohn im Speisewagen eines Zuges, ihnen gegenüber Tante Hedwig und Schwippschwager Hellmuth. Der Kellner kommt mit einem Tablett an den Tisch, ruft: „So, die Herrschaften“, verteilt die Bestellungen, fragt: „Für wen war die Torte?“, stellt sie vor Hellmuth, sagt: „Ich darf dann auch gleich kassieren“, der Zug quietscht, der Kellner wankt zurück, wankt nach vorn, stützt sich dabei mit der linken Hand mitten im Tortenstück ab, bemerkt: „Das ist die Kurve von Holzhausen“, wischt die Hände aneinander und fügt hinzu: „Ich mach das gleich weg.“

Den Kellner spielte Erich Schwarz. Fünf Sätze hatte er zu sagen. Aber Vicco von Bülow war nach der zwanzigsten Wiederholung noch immer nicht zufrieden. „Herr von Bülow“, sagte Erich Schwarz, „mit uns wird das nichts, ich erfülle einfach nicht Ihre Erwartungen.“ Und Loriot erwiderte: „Nein, nein, Herr Schwarz, ich möchte genau Sie.“

Eine andere Szene, ein anderer Film, „Hitlerjunge Salomon“. Erich Schwarz spielt den Lehrer Goethke. Er spricht gedehnt und überdeutlich, gestikuliert ausladend und doch vollkommen präzise. Ein Theaterschauspieler vor der Kamera.

Am Anfang hatte Erich Schwarz diesen Elternsatz gehört: Lerne erst mal etwas Richtiges. Industriekaufmann bei RWE in Essen sollte so etwas Richtiges sein. Eines Tages bekam er dort den Auftrag, einen großen Aktenstapel zu transportieren. Der Weg führte über den Werkhof, vorbei an Bürofenstern. Mit einem Einkaufswagen fuhr er die Ordner, lief deshalb immer wieder hin und her. Während jeder Tour blieb er für einen Moment in der Mitte des Hofes stehen, zog Grimassen und verbeugte sich dann tief vor den Angestellten, die inzwischen alle an den Fenstern standen.

Abgesehen davon, dass der Aktenberg irgendwann abgetragen war, erwies sich diese Bühne auf die Dauer als zu begrenzt. Also betrat Erich Schwarz die große. Nach der Bochumer Schauspielschule reiste er von einem Engagement zum nächsten, von Bielefeld nach Lübeck, weiter nach Mannheim, Köln und Berlin. In Lübeck saß eine junge rothaarige Frau im Zuschauerraum und war der festen Überzeugung, dieser eine Schauspieler schaue sie unentwegt von der Bühne herab an. Nach der Vorstellung folgte sie der Truppe in eine Bar und sprach den reizenden Gaffer an. Der staunte: „Wenn ich da oben stehe, sehe ich einzig einen Vorhang aus Licht.“ Die junge Frau zuckte mit den Schultern. Und blieb.

Bald konnte Erich nicht mehr ohne Ulla sein. Ihre Stimme war unüberhörbar, seine, wenn er nicht auf der Bühne stand, sanft. Sie bestimmte die Richtung, er folgte ihr. War er unterwegs, schrieb er ihr jeden Tag eine Karte, jede eine Liebeserklärung. Während einer Tournee in Tokio stieg er vor der Aufführung in eine U-Bahn, um sich die Stadt anzusehen, verfuhr sich, ganz und gar hilflos ohne Ulla, erreichte das Theater erst zehn nach acht, die Vorstellung lief bereits, und rannte ungeschminkt auf die Bühne.

Berlin, das Schiller Theater. Boleslaw Barlog hatte ihn 1967 ans Haus geholt. Er spielte Ionesco, Plenzdorf, Müller und Shakespeare. Er liebte Shakespeare. In einer Besprechung des „Sommernachtstraums“ wurde einzig Erich Schwarz gelobt. In „Macbeth“ unter Katharina Thalbach gab er gleich drei Charaktere. Er stand mit Curt Bois auf der Bühne und verstand nicht, warum die Leute jedes Mal an einer bestimmten Stelle lachten, denn nichts in diesem Moment war lustig, bemerkte erst am vierten Abend, dass Bois hinter ihm Faxen machte. Arbeitete mit Fritz Kortner, der während der Proben garstig näselnd rief: „Herr Schwarz, besuchen Sie die Schauspielschule.“

Er sollte für Knorr werben, aber er sagte kategorisch Nein. Er konnte doch nicht Erich Fried und Ernst Jandl in besetzten Häusern und im Knast lesen und zugleich Tütensuppen preisen. Sprache war für ihn ein lebendiges Gebilde. Wie im Labor nahm er die Worte auseinander und setzte sie neu zusammen, nannte es „die Aufhellung der Wirklichkeit durch Poesie“. Denn die Wirklichkeit ist meist trüb. Das Schiller Theater wurde abgewickelt und Erich Schwarz mit ihm. Er klagte und kämpfte als Beisitzer in Arbeitsgerichtsprozessen. Er unterrichtete leseschwache Kinder, in dem von ihm mitbegründeten Legasthenie-Zentrum, Poesie muss allen zugänglich sein.

Die Engagements nach der Schließung des Schiller Theaters blieben übersichtlich, aber die Sprache war ja nicht verloren, die Sprache der Dichter, denen er eine Stimme gab auf der Lesebühne „LesArt Widerhall“.

Er spürte seine Kräfte schwinden, das Herz geriet aus dem Takt, das Gedächtnis wurde löchrig. Doch gab es ja Ulla.

Die letzten Monate seines Lebens wohnte Erich Schwarz in einem Pflegeheim. Eines Nachmittags unternahm ein Freund einen Ausflug mit ihm im Rollstuhl. Erich, der sich an kaum noch etwas erinnern konnte, wollte immer weiter. Bis der Freund sagte: „Aber dann sind wir doch gleich in deiner alten Straße, bei Ulla“, und Erich antwortete: „Ja, da will ich auch hin.“

Ulla Schwarz starb, ohne dass jemand darauf vorbereitet gewesen wäre, am 24. September 2014, Erich Schwarz am 4. Dezember.

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