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Berlin: Ernst Müller, geb. 1918

Wie der Tagesspiegel am Freitag vergangener Woche auf dieser Seite berichtete, verstarb am 15. Oktober in Berlin der Auschwitz-Überlebende Ernst Müller.

Wie der Tagesspiegel am Freitag vergangener Woche auf dieser Seite berichtete, verstarb am 15. Oktober in Berlin der Auschwitz-Überlebende Ernst Müller. Am selben Tag starben unter anderem auch die folgenden Professoren der Medizin: Marco von Lobkowicz, Herbert von Gmachler, und Roberto Sbogetoni.

Über die anderen Kollegen ist mir persönlich nichts bekannt, wohl aber hatte ich die Ehre, Professor von Lobkowicz kennen zu lernen, der, wie übrigens der verstorbene Ernst Müller, auch ein Überlebender von Auschwitz war. Mit derselben Häftlingsnummer am Arm, 132159.

Über Ernst Müller, Sohn jüdischer Eltern aus dem Sudetenland, wurde des Öfteren geschrieben. Die Nachrufseite dieser Zeitung titelte: "Das Trauma von Auschwitz verfolgte den Überlebenden wie ein Schatten. Eine ziellose Flucht begann, doch überall blieb er ein Fremder. Erst als das Herz schwach wurde, bezwang er die Rastlosigkeit seiner verwundeten Seele. In Berlin fand er zuletzt doch noch ein Zuhause." Der Tagesspiegel berichtete über Ernst Müller bereits am 29. März 1997: "Ernst Müller erinnerte sich genau, es gibt kaum ein Detail, das er vergessen konnte. Er war Häftling von Theresienstadt und Auschwitz und überlebte die von Menschen gemachte Hölle." Seine Mutter hat er ins Gas gehen sehen. "Sei stark, Bub", hat sie da zu ihm gesagt, und die Leiche seines Vaters hat er auf einem Holzkarren weggebracht.

Ähnlich in der Berliner Zeitung vom 28. Januar 1999, wo die "Erinnerung immer wieder kommt", der "Auschwitz-Überlebende will aufklären". Er war, wie die "Bild"-Zeitung schon am 11. Dezember 1998 notierte, "ein Mann der Versöhnung, ehrenamtlicher Mitarbeiter der Wannsee-Gedenkstätte. Sein Anliegen war, "den jungen Menschen Auschwitz zu erklären." Lore Kleiber, Dozentin am Haus der Wannsee-Konferenz, lernte ihn dort kennen und sagte dem Tagesspiegel: "Ich habe mich immer gefragt, woher er die Kraft nahm, darüber zu sprechen und die Tränen zurückzuhalten". Auch mit dem Archiv der Erinnerung am Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam und der ShoahFoundation von Steven Spielberg führte er Interviews. Nicht alle SS-Leute im Lager waren schlecht, befand er, Ignatz Bubis und andere prominente Juden hat er heftig attackiert und auf einer Veranstaltung mit Martin Walser protestierte er gegen das geplante Holocaust-Denkmal.

Ein Mann mit vielen Geschichten

Ernst Müller, wie im Tagesspiegel berichtet, litt am Auschwitz-Syndrom, überlebte zwei Herzinfarkte und wurde in den 80er Jahren von seinem "Trauma eingeholt". Beim Anblick zweier Polizisten in Bad Nauheim ergriff er 1982 die Flucht, auch vor seiner damaligen Frau, verschwand und "driftete ab in illegale Geschäfte". Zu zwei Jahren wurde er verurteilt; in der Berufung, gewiss angesichts seines schweren Schicksals, wurde daraus eine Bewährungsstrafe.

Auch Professor Marco von Lobkowicz, mit der Häftlingsnummer am Arm und am Finger ein Ring, Erbstück der noblen Familie aus altem böhmischen Adel, kam nach Auschwitz zusammen mit seiner jüdischen Mutter, die dort, wie die Eltern von Ernst Müller, ermordet wurde. Professor von Lobkowicz, im Solde der World Health Organisation in Genf, nach Berlin geschickt, um dort eine Repräsentanz im deutschen Osten aufzubauen, erschien 1990 in einer jüdischen Vereinigung. Er sagte, seine Lebensumstände in Berlin seien unerträglich; als Neu-Berliner hätten ihn Antisemiten tätlich angegriffen, und er suche eine neue Bleibe. Von Lobkowicz fand Aufnahme in verschiedenen Wohnungen und revanchierte sich damit, Autos der Marke Mercedes-Benz zum Sonder-Einkaufspreis über die WHO zu vermitteln. Als das Bargeld nach einigen Monaten eingegangen war, und die Wagen aus der Lieferung kommen sollten, aber nie eintrafen, waren Professor von Lobkowicz und das Bargeld spurlos verschwunden. In der von ihm angemieteten Wohnung hinterließ er unter anderem zwei halbvolle Senfgläser ein Gurkenglas, saftige Wiener im Glas, etwas Speck, Knäckebrot und Heringfilets in der Dose. Einige Anzüge kamen aus Spanien und deuteten auf Marbella hin. Auf dem Fußboden lagen Ausgaben von Bild und BZ. Ein Plastikfolien-Schweißgerät, etwa für Ausweiskarten, lag in einer Ecke.

Etwa zwei Jahre später wurde von Lobkowicz / Professor von Gmachler / Professor Roberto Sbogetoni / Professor Marco Bebgers kurz vor der Einreise in die Schweiz bei einer Polizeikontrolle festgenommen und stand später als der Auschwitz-Überlebende Ernst Müller vor Gericht. Das von ihm erlittene "Auschwitz-Syndrom" half: Zwar hatte er sich mittels verschiedener Identitäten hunderttausende von Mark erschwindelt, aber am Ende kam er eben mit einer Bewährungsstrafe davon.

Der Auschwitz- und Theresienstadt-Überlebende ist in den Registern von Theresienstadt nicht aufgeführt, und seine Auschwitzer Nummer ist die eines anderen registrierten Häftlings - diesen habe er gekannt, gab Müller zu, die hätten das bei der Ankunft des Transportes in Auschwitz verwechselt. Das Gericht hat diesen Widerspruch nicht verfolgt (ist ja auch heikel, die Geschichte eines Auschwitz-Häftlings in Frage zu stellen) und zog es vor, ihm zu glauben, wie ihm auch andere die kühnsten Geschichten abgenommen haben. Ein "Ernst Müller" ist auf keinem Transport von Theresienstadt nach Auschwitz aufgeführt; laut Auskunft der Bibliothek im Haus der Wannsee-Konferenz sowie von Werner Renz, Archivar des FritzBauer-Instituts in Frankfurt, war ein "Ernst Müller" auch nicht Zeuge im Frankfurter Auschwitz-Prozess, und tatsächlich wissen wir heute viele Dinge, die "Ernst Müller" nicht war, und eigentlich wissen wir von ihm nur, dass er ein älterer Mann, Kettenraucher, BZ-Leser und Herings-, Wiener-mit-Senf-und-saure-Gurken-Esser war - oder, wie es der Philosoph Vincent von Wroblewski, der ihn auch als Professor von Lobkowicz kannte, formulierte: "ein Leben, an dem nichts eigentlich beweisbar ist."

Genie eines gelebten Mythos

Mit etwas Abstand betrachtet müssen wir sagen, "Ernst Müller" war ein großer Lehrer, Vorträge hat er leidenschaftlich gern gehalten, nicht nur als Zeitzeuge im Haus der Wannsee-Konferenz und als Medizin-Professor und Trauma-Experte in psychiatrischen Kliniken; mehr noch, "Ernst Müller" war eines der ganz großen Genies unserer Zeit. Heute, in einer datenmäßig scheinbar restlos erfassten Gesellschaft, flanierte das Simulacrum "Ernst Müller" selbst in hohem Alter unbekümmert ohne Steuerkarte durch die Welt, und wenn wirklich nötig, fabrizierte er diese selbst.

"Ernst Müller", wie alle großen Hochstapler, verdiente seinen Lebensunterhalt durch die auratischen Mythen unserer Zeit, und diese präzise zu identifizieren markieren ihn als wirklichen Könner: Professor der Medizin, böhmischer Uradel, Vertreter einer UNO-Organisation, Auschwitz-Überlebender, Jude in Deutschland. "Ernst Müller" hat weiterhin bewiesen, dass die glatten, synthetischen Geschichten besser als die authentischen sind. Hier ist er dem erfundenen Überlebenden Benjamin Wilkomirski aus der Schweiz nicht unähnlich, der es schaffte, sein weit gelesenes Buch beim Suhrkamp Verlag zu veröffentlichen und der auch immer noch gelesen wird. Obwohl offenbar kein schriftstellerisch begabter Mensch - "Ernst Müller" hat doch, als "Zeitzeuge" firmierend, mehr Interesse und Anerkennung gefunden als so viele tatsächliche Überlebende mit ihren gebrochenen Erlebnissen und den Ungereimtheiten ihrer tatsächlichen Erfahrung und ihres Leidens. Was wäre aus "Ernst Müller" geworden, hätte er erst ein Buch geschrieben?

Zudem hat die Sakralisierung des allzu leichtfertig dahingemünzten "Ziviliationsbruchs" von Auschwitz eine unantastbare Aura geschaffen, deren Martyriologie man nicht hinterfragen, kritisch beleuchten kann. Wer wollte es denn daher auch wagen, seine Geschichte, seine Medizinprofessur und den böhmischen Adel anzuzweifeln?

So hat uns "Ernst Müller" alias Marco von Lobkowicz alle gelinkt: vom Auschwitz-Kommitee über die Jüdische Gruppe, über das Moses-Mendelssohn-Zentrum, Ärzte an psychiatrischen Kliniken und das Haus der Wannseekonferenz bis hin zu den einschlägigen Tageszeitungen dieser Stadt und den Gerichten. Einer der ganz Großen aus seinem Fach ist von uns gegangen.

Michal Bodemann

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