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Berlin: „Es ist anstrengend, keinen Job zu haben“

Auf den ersten Blick erscheint es widersinnig: Arbeitslose leiden häufig stärker unter Stress als Berufstätige Aber Untersuchungen belegen, dass die seelische Belastung Menschen ohne Arbeit krank machen kann. Eine Fallgeschichte

Die Phase des planlosen Rumhängens hat sie hinter sich, sagt Anja Fragemann (Name geändert). Spät aufstehen, nie aufräumen, bis nachts fernsehen – das war früher, als es ihr richtig dreckig ging. Jetzt hat Anja ihr Leben besser im Griff: Jetzt hängt sie nach festen Regeln herum.

Der Wecker klingelt um halb acht. Zuerst macht sie Kaffee, dann den Fernseher an. Sat 1-Frühstücksfernsehen für die nächsten 90 Minuten. Anja nimmt Tabak und Blättchen und dreht ihren Tagesvorrat an Zigaretten: genau 25. Das ist ein Ritual, „Selbstdisziplin“, nennt sie es. Wobei sie Tagesvorrat wörtlich meint. Die Zigaretten müssen reichen, bis es draußen dunkel wird. Danach wird neu gedreht. Jetzt, kurz nach zwei, ist der Haufen mit den gestapelten Zigaretten schon deutlich kleiner geworden. Und Anja sitzt wieder – oder immer noch – auf der beigen Couch in der Zimmermitte, im dritten Stock des Hinterhofhauses in Prenzlauer Berg. Das Fernsehgerät ist aus, weil Anja Besuch hat. Sonst liefe „Richterin Barbara Salesch“, die gehört auch zum Tagesprogramm.

Anja Fragemann könnte Studentin sein, vielleicht Jura oder Volkswirtschaft; sie trägt Rollkragenpulli und Jeans, hat die Augen geschminkt und Spange im Haar. Aber sie ist keine Studentin. Sie ist arbeitslos. Seit 19 Monaten. Anja hat den Realschulabschluss, aber keine Lehrstelle bekommen; Rechtsanwaltsgehilfin, das wäre sie gerne, aber nun … Eine Menge Praktika, dann nichts mehr. 19 Monate Hartz IV. Das klingt nicht nach einer Ewigkeit, sagt sie. „Es fühlt sich aber an wie das Längste, das ich bisher erlebt habe.“ Durchgemacht habe, schiebt sie nach. Und: Dass ihr die Situation nicht gut tue. Anja drückt eine Zigarette im Aschenbecher aus. „Das glaubt uns Arbeitslosen zwar niemand. Aber keinen Job zu haben, ist anstrengend.“

Thomas Lampert glaubt das. Er kann es sogar beweisen. Der Soziologe arbeitet am Berliner Robert-Koch-Institut, das Gesundheitsrisiken bestimmter Bevölkerungsgruppen untersucht. Seine Statistiken belegen: Wer keinen Job hat, wird eher krank als Berufstätige. Und verbringt durchschnittlich doppelt so viel Zeit im Krankenhaus. Das kostet. Private Krankenkassen weisen schon länger auf das Problem hin, die Zahlen des Robert-Koch-Instituts machen deutlich, dass sein Ausmaß bisher unterschätzt wurde. Wer arbeitslos ist, leidet drei Mal so häufig an chronischer Bronchitis, hat doppelt so oft Asthma.

Männliche Arbeitslose sind besonders betroffen: Sie lassen sich sechs Mal häufiger wegen psychischer oder Verhaltensstörungen im Krankenhaus behandeln als berufstätige Männer. Depression ist die wahrscheinlichste psychische Erkrankung, aber auch Angststörungen und Schizophrenie kommen häufiger vor.

Bei manchen Krankheiten lässt sich nicht klären, ob sie durch Arbeitslosigkeit entstehen, oder ob sie zuerst da waren und zum Jobverlust geführt haben, sagt Lampert. Er liest die Zahlen aus Tabellen ab, die er selbst zusammengestellt hat. Die Daten wurden per Telefonumfrage erhoben. Abgesehen von seinem Onkel und alten Studienfreunden hat Lampert keinen Kontakt zu Arbeitslosen. Aber er kann ziemlich schlüssig erklären, wie es zu diesen Zahlen kommt. Das Schlimmste, sagt er, sei der Stress. „Der ist fürchterlich und andauernd.“ Weil Arbeitslose aus ihrer Situation „rauswollen, aber nicht können“. Weil sie nicht wissen, was morgen ist. Weil sie sich schämen und spüren, was die Gesellschaft über Arbeitslose denkt. Berufstätige haben auch Stress, sagt Lampert. Aber die hätten abends Feierabend. Und Wochenende. „Bei Arbeitslosen ist der Druck immer da.“

Stress erzeugt auch die ewige Sorge ums Geld. Anja Fragemann bekommt Hartz IV, das sind 55 Euro pro Woche für Essen, Kleidung und täglichen Bedarf. Ihre Eltern können nicht helfen, sagt sie. Darüber möchte sie nicht sprechen, die konnten noch nie helfen. Mit 55 Euro pro Woche lebt es sich schlecht. Als Anja diesen Sommer zum Zahnarzt musste, wollte der 150 Euro für Zahnfleischbehandlung und eine Keramikplombe haben. „Ich hab’ das gemacht und dafür bei Nahrungsmitteln gespart.“ Also nicht mehr warm gegessen, sondern drei Mal am Tag Brot, Margarine und Billigwurst. Auswärts essen geht auch ohne Zahnarztrechnung nicht. Kaffee trinken genauso wenig. Kino, Theater, Disko, alles kostet. Einkaufen sowieso. Deswegen geht Anja kaum vor die Tür. Manchmal zum Supermarkt, manchmal zu Freunden, alle paar Wochen zu Frau Hoyer ins Jobcenter Pankow.

„Ungesunde Lebensführung“ nennt das Thomas Lampert vom Robert-Koch-Institut. Nach dem Stress die zweitwichtigste Krankheitsursache von Arbeitslosen. Die bewegen sich viel weniger als Berufstätige, steht in Lamperts Tabelle. Geh doch mal öfters in den Park, hat eine Freundin zu Anja gesagt. Da kannst du dich gemütlich hinlegen. Da kann ich mich auch zu Hause auf meine Couch legen, hat sich Anja gedacht. „Die Leute meinen, man kann draußen so viel ohne Geld machen. Man kann aber praktisch gar nichts machen. Außer neidisch werden.“

Geldmangel macht einsam, sagt Lampert. Er bewirkt, dass sich Arbeitslose zurückziehen. Was dabei merkwürdig sei: „An Kleidung und Essen wird gespart. Nur am Tabak und am Alkohol nicht.“ Auch hier sind Männer stärker betroffen. Knapp zwei Drittel der männlichen Arbeitslosen rauchen, das sind 20 Prozent mehr als bei den Berufstätigen. Auch die Gefahr alkoholbedingter Lebererkrankungen ist bei Arbeitslosen höher. Anja Fragemann hat auch schon vor ihrer Hartz-IV-Zeit geraucht, aber nicht in dem Ausmaß. „Das macht mir selber Angst heute.“ Diesen Sommer konnte sie ihr Pensum auf drei Stück pro Tag drücken. Da hatte sie einen Ausbildungsplatz in der Rechtsanwaltskanzlei bekommen, da sollte es endlich wieder losgehen mit dem richtigen Leben.

Als Anja nach fünf Wochen gekündigt wurde, kaufte sie sich als Erstes eine neue Packung Tabak. Mit ihren 19 Monaten hat Anja Fragemann eine statistische Grenze überschritten. Das Robert-Koch-Institut fand heraus, dass die gesundheitlichen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit in den ersten zwölf Monaten minimal sind. Nach einem Jahr werden sie spürbar, das hat mit der abnehmenden Hoffnung zu tun, sagt Lampert.

Anja Fragemann leidet oft unter Kopfschmerzen. Und sie kann nicht einschlafen. Deshalb nimmt sie jeden Abend Opripramol. Eine Beruhigungstablette macht sie ruhig, zwei helfen beim Schlafen. Mit drei hat sie keine Probleme, bis der Wecker das nächste Mal klingelt

Der seelische Druck ist bei jungen Arbeitslosen besonders hoch, heißt es beim Robert-Koch-Institut, weil sie mitbekommen, wie Altersgenossen ins Berufsleben starten. „Die sehen ihre Felle wegschwimmen.“ Und mit jeder abgelehnten Bewerbung wird die Schere größer. Anja Fragemann hat bei 48 mit dem Zählen aufgehört. Das war im Juli 2005.

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