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Berlin: Es lebe die Ideologie

Brigitte Pick, frühere Leiterin der Rütli-Schule, hält Rückschau. Ihr Buch „Kopfschüsse“ bietet Geschichten – eine Analyse fehlt

Von Bodo Morshäuser

Knapp ein Jahr ist es her, dass die Rütli-Schule in Neukölln national bekannt wurde. Das Kollegium schrieb seine Kapitulation gegenüber der Schülerschaft nieder. Von ganz wenigen der zwölf angeschriebenen Stellen erhielt es eine Antwort. Der Brief landete bei der Presse, das Thema machte die übliche Medienlaufbahn. Wahlweise redete man über die Hauptschule, über martialisch auftretende Jugendliche oder das Versagen der Integrationspolitik. Geblieben ist, dass „Rütli“ ein Schlagwort für Schulgewaltprobleme wurde. Geblieben ist die von Schülern entworfene Modekollektion Rütli-Wear. Von den Betroffenen gab damals vor allem eine Person Auskunft: Brigitte Pick, von 1983 bis 2005 Leiterin der Rütli-Schule. Sie hat nicht alles erzählt. Jetzt, ein Jahr danach, äußert sie sich ausführlich.

In ihrem Buch erhalten viele der Schüler, über die zumeist pauschal geredet wird, ein Gesicht und eine Geschichte. Die Hälfte des Textes handelt, entsprechend dem achtzigprozentigen Migrantenanteil der Schule, vorwiegend von Schülern und Eltern aus arabischen Staaten, aus der Türkei oder vom Balkan. Es sind kleine Szenen, die oft nach dem Muster ablaufen: Mädchen geht nicht mehr in die Schule bzw. Junge wird kriminell, Schulleiterin besucht die Eltern und macht die Entdeckung, dass das Mädchen gern in die Schule gehen würde, von den Eltern aber nicht gelassen wird oder dass der Junge klaut, um andere Defizite auszugleichen. Die Botschaft: Es sind die Verhältnisse, nicht die Schüler, die versagen. Dieses Mitgefühl kommt sympathisch rüber. Gleichzeitig wirft es Fragen auf. Mit wem hat die Schulleiterin Pick gesprochen, um die Probleme an der Schule in den Griff zu bekommen? Diskussionen mit dem Kollegium kommen in ihrer Selbstbeschreibung nicht vor. Gedankenaustausch mit Leitern vergleichbarer Schulen: Fehlanzeige. Die Geschichten, die sie wiedergibt, könnten von jeder Lehrkraft geschrieben sein. Was in dem Buch nicht steht: Im Mai 2005 ergab eine Lehrerbefragung des Kollegiums der Rütli-Schule, die Schulleiterin Pick hofiere die Schüler, verbreite Angst bei den Lehrern, neige im Stress zur Überreaktion. Brigitte Pick erlitt einen Nervenzusammenbruch. Es folgten die Feststellung ihrer Dienstunfähigkeit, Frühverrentung. Wer ihr Buch „Kopfschüsse“ liest, fragt sich: Wie entstand dieses Kommunikationsproblem? Warum kamen Kollegium und Schulleiterin nicht zusammen? Warum erfahren wir von der Schulleiterin Einzelschicksale, aber keine Strategien, wie man die Situation zu meistern versuchte? Warum spottet sie sogar über Lehrer, etwa so: „Deren Festeinstellung geht zumeist mit festen Einstellungen einher.“ Warum schildert sie Lehrer ihres Kollegiums mehrmals als feige und unfähig, sich selbst aber als jene, die nicht die Straßenseite wechselt, wenn eine Schülertraube den Weg verstellt?

Die Antwort steht im Buch. „Kopfschüsse“ ist eine Ich-Erzählung. Man erfährt vor allem von einer Persönlichkeit, die den „Marsch durch die Institutionen“ hinter sich hat. Als Studentin der Pädagogischen Hochschule war Pick eine „Linke“, wurde als solche aktenkundig und bangte um ihre Anstellung als Lehrerin. 1970 kam sie an die Rütli-Schule, 1983 wurde sie dort Schulleiterin.

Schule definiert sie nach 35 Berufsjahren so: „Die Interessen und die Lebenswelt der Jugendlichen sind nicht Gegenstand des Lehrplans. Schule soll und muss als Zwangsveranstaltung vor sich gehen. Das aber funktioniert zunehmend schlechter.“ Oder so: „Aufgabe der Schule ist, das Leben vom Lernen, die Schafe von den Böcken zu trennen und bei diesem unsinnigen Tun auch noch allgemein anerkannt zu sein.“ Das Buch verrät: Brigitte Pick ist beruflich und politisch mit der Systemfrage sozialisiert worden. Beinah hätte man sie ja deshalb als Lehrerin nicht angestellt. Selbst als Schulleiterin blieb sie dabei, nicht an Veränderungen im Kleinen zu glauben, solange das System nicht über den Haufen geworfen wird: „Reformen werden verordnet in dem aberwitzigen Versuch, die Fassaden des Systems für den Sinn des obsoleten Unternehmens auszugeben.“

Das war in den siebziger Jahren wohl ein toller Satz. Als Rückschau einer Schulleiterin auf ihren Beruf ist er eine Katastrophe. Denn er bedeutet: Ideologie ist angesagt, nicht Pragmatismus. Eine Schulleiterin aber, die nicht pragmatisch vorgeht, weil sie dem System misstraut, ist ein unfähige. Es ist ihre Aufgabe, ihren Ort im System, die Schule, zu stärken. Sonst hat sie ihren Beruf verfehlt. Analyse findet in diesem Buch nicht statt. Vielmehr erweist sich die Selbstdarstellung als Teil des Problems. Insofern trägt Picks Buch sogar ein bisschen zur Aufklärung bei. Es könnte ebenso heißen: Was alles geschah, nachdem ich trotzdem Schulleiterin wurde.

Brigitte Pick: „Kopfschüsse. Wer PISA nicht versteht, muss mit RÜTLI rechnen“, VSA-Verlag, 182 Seiten, 14,80 Euro

Der Autor, 1953 in Berlin geboren, machte sich mit Erzählungen und Romanen („Der weiße Wannsee“, „Tod in New York City“, „In seinen Armen das Kind“) einen Namen. Morshäusers Bücher sind bei Suhrkamp erschienen.

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