zum Hauptinhalt

Ralph Trommer: Abgetaucht

"Berlin. Ein Mann mittleren Alters verschwand am gestrigen Abend auf ungeklärte Weise aus seiner Wohnung.

"Berlin. Ein Mann mittleren Alters verschwand am gestrigen Abend auf ungeklärte Weise aus seiner Wohnung. Die Zeugin, eine Nachbarin, hatte aus der Wohnung gegenüber beobachtet, wie er in die Badewanne stieg. Zuletzt trug der Mann einen Damen-Bademantel mit Leopardenmuster. Seitdem fehlt jede Spur. Hinweise an das Büro für verlorene Angehörige."

Wer spricht da? Meint der etwa mich? Huch! Ich trage ja immer noch den Bademantel meiner Frau… Wo bin ich hier? Bin ich etwa in der Wanne eingeschlafen und ertrunken und irre nun durchs Totenreich? Seit Stunden taumele ich über feuchte, schwarze Hügel. Endlich Licht!

Es blendet einen wie auf dem Gletscher. Eine weiße Wüste. Und dort hinten sind schon wieder diese Hügel zu erkennen. Moment mal, wenn ich diese weiße Ebene von hier aus überblicke, und die Anordnung der schwarzen Hügel darauf richtig interpretiere, dann sieht es aus wie ein gigantisches, monströses… "O"!

Ich trete noch weiter zurück. Da sind weitere riesige Buchstaben:

Ore… loren… VER-LO-REN!

Wenn ich mich nicht täusche, dann sind die Hügel aus Tinte, frischer Druckerschwärze. Ich brauche mehr Abstand, um das Ganze zu überblicken. Ob diese Wörter identisch sind mit dem, was die Stimme eben gesagt hat? In der Tat, da hinten erkenne ich die Worte ZEUGIN und NACHBARIN. - Ha! Die olle Krause - ob die jedes Mal zukuckt, wenn ich in die Wanne steige? - Aber… Dann liest mir diese Götterstimme wohl meine eigene Vermisstenmeldung vor. Wie peinlich - wenn das hier die Tageszeitung ist, dann weiß bald alle Welt, ja, die ganze Nachbarschaft, meine Kollegen und die Mitschüler meiner Kinder, dass ich den Bademantel meiner Frau benutze!

Schon komisch, das Ganze. Bin ich geschrumpft worden? Ich gehe mal hier entlang…

VORISCHT! SIE VERLASSEN DIE SPALTE "UNWICHTIGE VORKOMMNISSE" UND GELANGEN IN DIE RUBRIK "KÖSTLICHE KATASTROPHEN AUS ALLER WELT".

Hilfe! Ich falle ins Bodenlose - nein, ins Meer, direkt vor einen traumhaften Badestrand. Zahlreiche Strandschönheiten flimmern vor meinen Augen. Vielleicht komme ich doch noch auf meine Kosten. Ob mein Bademantel der hiesigen Mode angemessen ist? Aaaaaaah!

(BLUBBER)

Puh, das Wasser ist fast so warm wie in meiner Badewanne. Die Wellen sind erste Sahne, die wollen hoch hinaus! Juchheee! Das kann nur ein Traum sein.

- Das ist kein Traum, du Trottel!

Nun erst bemerke ich, dass etwas seitlich von mir ein dicklicher Kerl mit grimmigem Gesicht auf der Spitze der Welle mitschwimmt.

- Das ist ein echter Tsunami, mein Guter, haben Sie die Stimme der Zeitung nicht gehört? Die Riesenwelle wird gleich den Strand dort zerstören und alles Leben unter sich begraben.

Ich lausche. Entfernt, von den Meeresgeräuschen übertönt, erkenne ich die "Stimme der Zeitung", wie sie der Dicke genannt hat.

"Es besteht Hoffnung, dass die Zahl der Toten weiter ansteigt. In unserer morgigen Ausgabe erfahren Sie mehr. Zählen Sie unter Ihren Angehörigen nach, ob nicht jemand vermisst wird…"

- Das ist ja grauenhaft. Wie kommen wir hier raus?

- Folgen Sie mir nach Backbord - dort müsste meinen Berechnungen zufolge der Spaltenrand zu finden sein.

Hastig rudere ich mit den Armen, entgegen dem Sog der Riesenwelle und schwimme meinem erstaunlich schnellen Kumpan hinterher.

- Absprung!

Kurz darauf fällt der Dicke ins Leere und ich purzele ihm nach.

- Keine Sorge, das ist nur der Rand der Fotografie, wir landen auf weichem Papier!

Einen Augenblick später lande ich auf dem Po, unter mir nur die weiße, dehnbare Masse, durch die ich zuvor schon gewandert war. Der Dicke hilft mir mit starkem Griff auf die Beine. Sein Gesicht erscheint mir merkwürdig unbeweglich. Ich selbst muss recht ratlos aussehen, denn bevor ich eine Frage stellen kann, antwortet mein Helfer in der Not:

- Wenn Sie es noch immer nicht begriffen haben: Sie befinden sich auf Ihrer Tageszeitung, letzte Seite, Vermischtes, Hiobsbotschaften aus aller Welt - die Seite, bei der man pflegt, sich zu entspannen, indem man über den Problemen der anderen die eigenen, nichtigen vergisst!!

- Wollen Sie damit ernsthaft behaupten, dass wir uns hier IN einer Tageszeitung befinden? Und jeder von uns hat seine eigene Rubrik?

- Genau! Aber machen Sie sich keine Illusionen: Sie sind nur eine kleine Nummer, ein paar Zeilen, die schon am nächsten Tag vergessen sind. Wenn wir hier rauskommen wollen - und ich setze voraus, dass auch Sie nicht den Rest ihres Lebens in diesem Labyrinth aus Buchstaben verbringen wollen-, dann dürfen wir uns nicht in den mehr oder weniger schaurigen Schicksalen der anderen verfangen. Glauben Sie mir, ich bin schon seit Wochen unterwegs, und immer wieder verstellen neue Blitzmeldungen den Weg.

- Nun spannen Sie mich nicht länger auf die Folter: welches ist der direkte Ausweg?

- Wir hangeln uns von Letter zu Letter und von Meldung zu Reportage. Erst müssen wir über den Politik- und Wirtschaftsteil den Feuilleton ansteuern, aber links liegen lassen und uns weiter bis zum Wetterbericht vorarbeiten. Von dort aus wagen wir den Sprung ins NICHTS, das ist die Leere zwischen zwei Ausgaben, um in der Realität zu landen.

Die Rede meines grimmigen Helfers klingt überzeugend, also folge ich seinem mächtigen Schatten auf dem Weg ins Ungewisse.

Nach stundenlangem Marsch und waghalsigen Manövern beim Wechseln von einem Ressort zum nächsten (beinahe wäre ich in der Bundesligatabelle auf den letzten Platz abgestürzt, aber mein Begleiter konnte mich gerade noch halten) erreichen wir endlich den Wetterbericht, der seiner Angabe nach das letzte Hindernis darstellt.

- Dort hinten ist er. Lassen Sie uns hier pausieren, bevor sich unsere Wege trennen.

Ich kann meine Neugier nicht länger bremsen:

- Sie haben meine Meldung gehört. Doch was ist Ihnen widerfahren?

In der Tat hat mein Begleiter sich bislang darüber in Schweigen gehüllt. Der Mann sieht mich noch finsterer an als zuvor, sodass ich vor Schreck einen Ausfallschritt in die nächste Rubrik mache.

"Der Serienmörder Ernst Bier ist noch immer auf freiem Fuß. Bislang gehen 45 Morde auf sein Konto. Die Polizei warnt: Der Mann ist gefährlich und lockt seine Opfer geschickt in die Falle…"

Wie ein Blitz trifft mich die Erleuchtung: mein Gefährte ist der gesuchte Mörder, von dem die Stimme erzählt. Und sein Gesicht wirkt nur deswegen so unbeweglich grimmig, weil es eine äußerst stümperhafte Phantombild-Zeichnung ist. Der fiese Kerl hat mich also in seinen eigenen Report gelockt, um seine Sammlung von grausig zugerichteten Leichen aufzustocken.

- Freu dich: von der unscheinbaren Notiz steigst du zu einem mit Farbfoto geehrten Opfer in einem spektakulären Kriminalfall auf.

Nun, in diesem Augenblick wird mir bewusst, dass ich einfach nur in die Realität zurück will, in meine persönliche, kleine Badewanne, in die ich mich gerne versenke, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme.

Ich renne, so schnell ich kann, drauflos, ohne zu sehen, wohin.

- Du kannst mir nicht entkommen, es gibt keinen Weg in die Freiheit!

ruft mir Ernst Bier hinterher. Ich spüre seinen Atem im Nacken und seine klauenhaften Finger nach mir grapschen.

- Du bist nur ein Phantombild, Ernst, wahrscheinlich siehst du dir noch nicht einmal ähnlich. Du existierst gar nicht, weil die Polizei wieder einmal den Falschen jagt. Verschwinde, du platte Witzfigur!

Während ich außer Atem diese Worte rufe, falle ich plötzlich ins Nichts.

Als ich auftauche, ist das Badewasser bereits abgekühlt. Die Seite "Vermischtes" liegt aufgeschlagen vor mir auf der Wannenablage.

Mein Blick fällt zur Decke. Sie ist weiß wie Zeitungspapier. Vermutlich bin ich von dort oben in die Realität zurückgefallen, das heißt, in diese Realität.

Zu Hause. Noch mal gut gegangen.

Allmählich wird es mir zu kalt, ich will mich erheben und greife instinktiv nach dem Leopardenbademantel meiner Frau, als mein Blick aufs Fenster fällt.

Frau Krause beobachtet mich mit ihrem Opernglas von gegenüber. Wie lange steht sie wohl schon dort, mit Spannung erwartend, wie ich nackt aus der Badewanne steige. Ich muss schmunzeln und winke ihr zu.

Da treten ihre Augen aus den Höhlen hervor, ihr Mund öffnet sich zum Schrei und ihre Zunge zuckt heraus.

Mit Grausen erkenne ich hinter ihr das Gesicht von Ernst Bier, der ihren Hals mit beiden Händen würgt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false