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Lily Farhadpour (l) und Esmail Mehrabi in einer Szene des Films «Keyke mahboobe man» („My Favourite Cake“, undatierte Filmszene). Der Film geht bei der diesjährigen Berlinale in das Rennen um einen Goldenen Bären.

© dpa/Hamid Janipour

Festival der Menschlichkeit: Die Berlinale zeigt trotz eigener Sorgen eine bessere Welt

Was kann ein Filmfestival schon ausrichten gegen die Dramen unserer Zeit? Die 74. Berlinale zeigt die Kraft des Kinos, unsere Welt mit anderen Augen zu entdecken – und uns gegenseitig mehr in die Augen zu sehen.

Ein Kommentar von Robert Ide

Zum Beispiel der iranische Liebesfilm. Eine ältere Frau entdeckt einen älteren Mann in einem Restaurant, lädt ihn zu sich nach Hause ein – in Teheran eine Ungeheuerlichkeit. Beim Reden, beim Lachen, beim Trinken eines heimlich gebrauten Weins kommen beide sich nahe, kochen und tanzen, haben die schönste Nacht seit Jahren, ach was, ihres Lebens. „Es heißt ja, die meisten Männer wissen nicht, wie es ist, von einer Frau geliebt zu werden“, sagt er zu ihr. Sie schaut ihn an: „Jetzt weißt du es.“

Ein verträumtes Seufzen geht durchs Kino, Hände rühren sich zum kurzen Applaus, manche im Saal verlieren eine Träne. Es ist ein Moment des Zaubers, wie ihn die Berlinale in zehn Tagen hundertfach zu schaffen vermag.

Zauberhaft den Erschütterungen trotzen

Das größte Publikums-Filmfest der Welt. Das größte Kulturereignis Deutschlands. Die längste Dauerparty Berlins. Die Berlinale mag wieder im Umbruch sein im lausig-launischen Berliner Februar. Sie wird ergriffen von den politischen Erschütterungen der Welt, aber bleibt zauberhaft. Eine Reise in zehn Tagen um die Welt. Eine Expedition zu eigenen Sehnsüchten. Ein Erlebnis des Miteinanders.

Jurychefin Lupita Nyong’o gibt der Berlinale Kraft.
Jurychefin Lupita Nyong’o gibt der Berlinale Kraft.

© David Heerde/David Heerde

Die Menschheit wird derzeit tief von sich selbst erschüttert. Die nicht mehr aufzuhaltende Klimakrise. Der Krieg des Kreml gegen die Ukraine, Europa und das eigene Volk. Das Leiden der Menschen in Nahost nach dem Hamas-Terror. Eine verunsicherte Gesellschaft, die sich anschreit. Der hybride Krieg gegen die Demokratie. Was kann ein Film gegen diese übermächtig erscheinenden Dramen tun?

Die 74. Berlinale zeigt gerade, wie man Haltung zeigt als Mensch – durch Mitmenschlichkeit. Die Filme erzählen es, auch Gesten auf dem roten Teppich, getragen von Zugewandtheit. Bei der Berlinale lachen Fremde friedlich miteinander. Das kann die Welt verändern – für einen Moment, der hält.

Hurra, der deutsche Film lebt noch

Kino ist zum Träumen da. Und zeigt die Realität. Bei der Weltpremiere des iranischen Liebesfilms „My Favourite Cake“ blieben zwei Plätze im Berlinale-Palast leer. Das Regie-Paar Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha wurde vom Regime mit einem Reisebann belegt. Aber ihr bewegender Film über eine kurze, mutige Liebe in Teheran lässt sich nicht einsperren. Und ist schon einer der Favoriten im Wettbewerb.

Die iranische Regie-Paar Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha durfte nicht zur Berlinale reisen.
Die iranische Regie-Paar Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha durfte nicht zur Berlinale reisen.

© REUTERS/ANNEGRET HILSE

Die Berlinale war immer politisch und steht klug dazu. Es gibt viele ukrainische Filme, den so nötigen genauen Blick nach Osteuropa. Es gibt zwei israelisch-palästinensische Produktionen und ein Dialogprojekt. Es gibt endlich Sichtbarkeit für Afrika, nicht nur durch die kraftvolle kenianische Jury-Präsidentin Lupita Nyong’o.

Und Hurra, das deutsche Kino lebt noch: Die wunderbar wandelbare Sandra Hüller liegt aussichtsreich im Oscarrennen, ebenso der gehaltvoll gefühlvolle Regisseur Wim Wenders sowie das alltagspolitische Drama „Das Lehrerzimmer“ von İlker Çatak. Seine Premiere feierte der Film vor einem Jahr auf der Berlinale.

Der deutsche Berlinale-Film «Das Lehrerzimmer» ist im Oscar-Rennen.
Der deutsche Berlinale-Film «Das Lehrerzimmer» ist im Oscar-Rennen.

© dpa/Judith Kaufmann

Na klar, das Kino hat Sorgen. Für Kunst ist immer weniger Geld da. Die Künstliche Intelligenz verdrängt Menschen bei der Traumproduktion. Hinter den Leinwänden gibt es noch immer patriarchale Machtstrukturen.

Berlin liebt seine Berlinale

Und na klar, die Berlinale hat Sorgen. Dem Festival fehlt ein Zentrum. Es fehlen Sponsoren und eine unterstützende Kulturpolitik. Das Filmangebot ist geschrumpft. Es braucht die Vision für ein Wachstum – bald wird sich Londons bisherige Filmfest-Chefin Tricia Tuttle daran versuchen.

Es fehlt trotz glanzvoller Eröffnung an Hollywood-Glamour und der cineastischen Kraft der Festivals in Cannes und Venedig. Dafür findet das Kino hier das beste und treueste Publikum der Welt. Fast jede Vorstellung ist voll besetzt. Berlin liebt seine Berlinale. Weil sie zeigt, wie die Stadt selbst ist: weltoffen und permanent im Umbruch.

Je schlechter die Zeiten sind, desto besser geht es dem Kino. Es lädt ein zum Träumen und zum Verstehen der Welt, zum Erzählen eigener Geschichten. Wie der deutsche Liebesfilm „Alle wie du bist“. Darin fragt der Mann seine an der Welt zweifelnde Frau: „Brauchst Du mal Zeit für dich?“ Sie schaut ihn an: „Nein, ich brauch Zeit für dich.“

Es ist die Botschaft dieser Berlinale: Nehmen wir uns mehr Zeit füreinander.

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