zum Hauptinhalt

Berlin: Flieg Flamingo, flieg

In Friedrichsfelde entsteht ein Wandbild: Es soll das größte der Welt werden. Genossenschaften engagieren Künstler, um Plattenbauten attraktiver zu machen.

Es ist fast wie ein Umzug, ohne dass auch nur ein einziges Möbelstück seinen Platz verlassen hat. Statt im großen Plattenbau – Orientierung nur nach Hausnummer möglich – wohnen die Mieter jetzt im kleinen blauen Haus, direkt unter dem Dach. Oder neben dem vorbeifliegenden Flamingo, der auch nach Jahren noch nicht von der Stelle gekommen sein wird. Brigitte Junker, 65, lebt hier seit 32 Jahren. Sie ist sehr zufrieden mit der neuen Umgebung. „Das ist nicht mehr so anonym“, sagt sie.

Die hellen Pastelltöne auf der Platte, die Brigitte Junker drei Jahrzehnte lang Tag für Tag zu sehen bekam, sind farbenfrohen Tönen gewichen. Malerische Häuschen, Bäume verschiedenster Art, Vögel und andere Tiere verschönern jetzt die bislang eher triste Wohngegend. In einer großen Plattenbausiedlung der Wohnungsbaugenossenschaft Solidarität direkt am Tierpark in Friedrichsfelde entsteht zurzeit ein riesiges Wandbild auf insgesamt rund 22 000 Quadratmetern. Schon im dritten Jahr arbeiten die Künstler daran. Diesen Sommer wird es fertig – und es soll das größte bewohnte Wandbild der Welt sein. Die Bewerbung ist bereits beim Guinness-Buch der Rekorde eingereicht.

Berlin ist berühmt für die vielen Wandbilder, einige hundert sind es stadtweit. In den siebziger Jahren begannen Künstler im Auftrag der Stadt, Fassaden zu verschönern, um damit ganze Kieze aufzuwerten. In Kreuzberg und Charlottenburg ging es los, heute konzentrieren sich die Aktivitäten der Wandbemaler vor allem auf Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg. Denn Wohnungsbaugenossenschaften und -gesellschaften haben die Fassadenkunst für sich entdeckt, um ihre Wohnblöcke attraktiver zu machen. „Die sind die Einzigen, die sich das noch leisten können“, sagt Norbert Martins, der sich seit Beginn der Wandmalerei mit der Berliner Fassadenkunst beschäftigt. „Die Stadt kann das nicht mehr.“

Es kam schon vor, dass Mieter dem Künstler Steve Rolle Kaffee und Kuchen durch das Fenster gereicht haben, als er gerade auf dem Gerüst stand und pinselte. „Dafür sollte ich ihnen dann aber auch einen Extravogel neben ihr Fenster malen“, sagt er lachend. Der 35-Jährige steht in bunt bekleckstem Outfit mit Jeans und Regenjacke vor der Friedrichsfelder Siedlung und beobachtet, wie eines der Gerüste abgenommen wird. Auch eine der rund 1600 Mieter blickt bewundernd nach oben. Ursula Richter, 75, wohnt hier seit fast vier Jahren. „Das ganze Haus sieht gleich ganz anders aus“, sagt sie. Sie hat sich sofort in das Eichhörnchen verliebt, das an der Fassade nach oben turnt.

Läuft man die lange Häuserschlange entlang, gibt es noch viel mehr zu entdecken: ein nistender Storch auf einem Schornstein, Papageien, ein fliegender Pfau. Steve Rolle zeigt nach oben auf ein Fenster, das nur auf den zweiten Blick als gemalt zu erkennen ist. „Da oben im Fenster haben wir den Hund einer Mieterin verewigt.“ Vor Beginn der Arbeiten hat die Genossenschaft die Motive mit den Mietern abgestimmt. „Es war entscheidend, was die Mehrheit der Mieter vertreten kann“, sagt Vorstandsassistent Norbert Berg. Mit den vielen exotischen Vögeln wurde auch ein Bezug zum nahe gelegenen Tierpark geschaffen. Die Genossenschaft erhofft sich, mit dem Wandbild auch jüngere Mieter anzuziehen.

Die beauftragten Künstler kommen aus einer Lichtenberger Zweigstelle der französischen Fassadenkünstler „Cité Création“, die sich auf große Wandbilder spezialisiert haben. Steve Rolle ist Geschäftsführer der Zweigstelle. „Wir wollen triste Ecken ein wenig bunter machen“, sagt er. In manchen Fällen ginge es den Auftraggebern auch darum, Leerstand zu bekämpfen. In Berlin gibt es schon mehrere Werke der Fassadenkünstler, etwa für die Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land in der Neuköllner Sonnenallee. Auch den „Flower Tower“ in der Allee der Kosmonauten in Marzahn haben Steve Rolle und seinen Kollegen für die Genossenschaft Friedenshort gemalt. Das höchste Fassadenkunstwerk Europas wurde im vergangenen Jahr eingeweiht.

Ende August soll es in Friedrichsfelde so weit sein. Bis dahin bekommen die Künstler viel Aufmerksamkeit von den Bewohnern. Und auch manche Anwohner von gegenüber kommen über die viel befahrene Straße Am Tierpark gelaufen. Schließlich sehen sie das Bild jeden Tag aus ihren Fenstern. Steve Rolle hat neulich sogar einen Blick aus einer ganz seltenen Perspektive erhascht. Er zückt sein Smartphone und zeigt das Beweisfoto: Als er aus Tegel mit dem Flugzeug Richtung Frankreich startete, sah er sein gigantisches Werk auch mal von oben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false