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Berlin: Fred Harald Gerstner (Geb. 1918)

Auf Schnappschüssen, Alltagsbildern – immer posiert ein Star.

Die Schallplattenabteilung im KaDeWe war bekannt für ihr Sortiment. René Kollo, Boleslaw Barlog – viele, die in der Stadt gastierten, kamen vorbei und plauschten mit ihm, dem Klassikverkäufer, über die besten Aufnahmen. Zwar war sein Kunstsinn größer als seine Verkaufsrate, doch wusste seine Chefin sehr gut, was sie an ihm hatte. Einen wie ihn gab es gar nicht mehr. Ein Beau der alten Schule, in Anzug und mit roter Krawatte. Dass er selber sang und Theaterstücke schrieb, ließ er nicht jeden wissen. Allerdings weniger aus Bescheidenheit, denn aus künstlerischem Stolz.

Nach Feierabend stolzierte er den Kudamm hinunter und stieg gravitätisch in den Bus. Es kam vor, dass Fahrgäste ihn ansprachen: „Sind Sie nicht der Herr Gerstner aus dem KaDeWe?“ Das schmeichelte ihm, wie es jeden Schauspieler schmeichelt. Denn, ja, ein Schauspieler, ein Künstler war er im Grunde immer noch. In den Fünfzigern und Sechzigern hatte er auf vielen Bühnen gesungen: Den Bass-Part in der Matthäus-Passion in Dresden 1956, die Johannes-Passion in Coesfeld 1957, Auftritte und Radiomitschnitte in Aachen und Berlin. Sein Begleiter am Klavier war Aribert Reimann, mit dem ihn eine lange Freundschaft verband. Doch der große Erfolg blieb aus. Lag es an mangelndem Talent oder war seine künstlerische Selbstgefälligkeit zu groß? Ein Heidelberger Kritiker befand einmal, er singe etwas schleppend und halte das vorgegebene Tempo nicht.

Die Liebe zur Kunst hatte er von der Mutter geerbt, einer temperamentvollen Frau, die ihn schon als Kind mit in die Oper nahm. In Geldangelegenheiten war sie weniger vorbildlich. Als die Familie Ende der dreißiger Jahre von Heidelberg nach Berlin zog, kämpfte sie beim Insolvenzverwalter erbittert um das Klavier, das ihm so sehr ans Herz gewachsen war. Mit Erfolg.

Einige Jahre später fielen Bomben auf die Stadt. Eine traf ein Haus in der Kastanienallee, in dem er gerade Klavier spielte. Doch sein Kunsthimmel war durch nicht zu erschüttern. Er spielte einfach weiter.

Ein begonnenes Philosophiestudium, eine abgeschlossene Gesangsausbildung. Wann immer er Zeit fand, ging er ins Theater und ins Kino. Zwischen den Engagements arbeitete er in einem Hotel in Aachen. Nebenbei schrieb er Stücke, doch fand er keinen Verlag. Sein Drama über die Wirren der Französischen Revolution wurde abgelehnt, weil zu viele Statisten nötig waren.

Anderen wäre der Atem längst ausgegangen, ihm nicht. Hier ein Lektoratsjob für einen Botanik-Verlag, da ein neues dramatisches Werk. Wie er sich all die Jahre über Wasser hielt, weiß niemand so genau, zumal für ihn Geld keine Frage des Habens, sondern des Abhebens war. Im Grunde schauspielerte er sich durch das Leben wie andere durch ein Bewerbungsgespräch. Alben voller Fotos, auf denen er wie ein Star posiert. Alles Alltagsbilder, Schnappschüsse! Auf einer Strandliege mit eingezogenem Bauch, lässig mit Zigarette à la Marlon Brando oder dandyhaft mit übereinander geschlagenen Beinen und exakt gefaltetem Einstecktuch – an Rollenklischees mangelte es nicht.

Das Stück seines Lebens war sein Leben selbst. Es handelte davon, im Kunsthimmel Fuß zu fassen, ohne je von der Wolke des schönen Scheins herabzusteigen. Das Schöne, Gute, Wahre betrachtete er weniger als erstrebenswertes Ideal, denn als einbildungswerten Ist-Zustand. So, wie er sich nie von seiner Perücke trennen mochte, die das schüttere Haar verdeckte, so betrog er sich mit lauter schönen Dingen um einen Teil der Wirklichkeit. Ein Salon-Kommunist war er, sagen die Freunde, der auf Amerika schimpfte und am liebsten Coca Cola zum Kuchen trank.

Verheiratet war er nie, nicht einmal liiert. Seine wahren Gefühle überspielte er mit schöngeistiger Noblesse. Was bleibt von solch einem Leben voll Klassikkenntnis, Talent, abgelehnter Theaterstücke und hochgehaltener Ideale? Kunst und Leben fielen bei ihm in eins, sie waren gleich lang oder gleich kurz, wie man es nimmt.

Ob er Schmerzen habe, fragten ihn die Freunde, als er im Rollstuhl im Pflegeheim saß. Schmerzen? Er? Das hätte er nie zugegeben. „Ach, Harald, wie lange kennen wir uns schon? 38 Jahre?“ – „Ja, das ist doch schön, nicht!“ Stephan Reisner

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