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Proteste für den 15-jährigen Berkin Elvan gab es auch in Berlin.

© dpa

Proteste in der Türkei: Freiheit für alle!

Als Besucherin des Landes ihrer Familie kam sich Hatice Akyün selbst wie eine Langzeittouristin vor. Und damit die Türkei eines Tages nicht nur auf dem Papier eine Demokratie ist, müssen die Türken lernen, dass „hätte, würde, sollte, müsste“ sie nicht weiterbringt, schreibt sie.

Als in Istanbul in der letzten Woche wieder Hunderttausende auf die Straße gingen, um dem 15-jährigen Berkin am Tag seiner Beerdigung eine letzte Ehre zu erweisen, beschoss die Polizei die friedlichen Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas.

Der Staat gebärdet sich wie ein trotziges Kind, er will wider besseres Wissen durch das Einprügeln auf die Demonstranten dokumentieren, er habe mit Ursache und Wirkung nichts zu tun. Der Junge war während der Gezi-Park-Proteste im letzten Sommer von einer Tränengasgranate aus kürzester Distanz am Kopf getroffen worden und erlag nach Monaten im Koma seinen schweren Verletzungen.

Die Bilder in der Türkei lassen mich nicht los, und ich habe mich gefragt, warum mich das Schicksal der Menschen so sehr berührt, warum es mich wütend macht, mich verzweifeln lässt? Wie vermutlich viele Kinder türkischer Eltern und Großeltern in Deutschland sind wir mittlerweile so bundesrepublikanisch, dass wir unsere Verhältnisse auf die Türkei übertragen, was die Diskrepanz für uns noch größer macht, als sie von innen heraus dort zu erleben.

Die Türkei war immer das Land meiner Eltern. Ich habe sie nie als Land kennengelernt, in dem ich als erwachsener, mündiger Bürger lebe, wie in Deutschland. Als ich 2012 beschloss, nach Istanbul zu gehen, merkte ich schnell, wie viel Sicherheit und Gewissheit ich in meinem Tun hatte, weil ich mich in Deutschland innerhalb geordneter Strukturen in Staat und Verwaltung bewegen konnte. Damals wusste ich noch nicht, wie fremd mir das Land eigentlich ist, das ich so gut zu kennen glaubte.

Gegen den Strom zu schwimmen ist schwer - überall

Ich fühlte mich als Touristin, eine Langzeittouristin mit exklusiven Einblicken, aber ich war nie ein Teil der türkischen Gesellschaft. Schon allein deshalb, weil ich in Deutschland mit Werten wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Toleranz aufgewachsen bin. Sie sind für mich als Deutsche selbstverständlich. Und vielleicht fühle ich mich gerade deshalb so stark mit der Türkei verbunden, weil die Menschen diese Rechte nun für sich einfordern.

Auch bei uns haben es die schwer, die gegen den Strom schwimmen. Sie sind aber kein Freiwild und irgendwann nimmt man sie zur Kenntnis. Deshalb kann unsere Gesellschaft mit allen Widersprüchen auch Kompromisse schließen. Mühsam, langsam, unbefriedigend und dennoch so, dass es irgendwie zusammengeht.

Durch Gewerkschaft oder Straßenprotest - Freiheit kann jeder einfordern

Was vermutlich beide Gesellschaften verbindet, ist die Tatsache, dass jene, die ihre Freiheiten einfordern, oft nicht so organisiert sind, dass sie auch unmittelbar Wirkung erzielen. In Deutschland geht das über eine Zivilgesellschaft, Bewegungen, Gewerkschaften, Vereine und Parteien, die sich manchmal überlappen und daher handwerklich wissen, wie man so etwas macht. Da, wo es solche Strukturen nicht gibt, bleibt nur die Straße für den Protest.

Nicht hätte, würde, sollte - Machen!

Wenn ich noch mal länger in die Türkei gehen sollte, mache ich diesen Lehrgang, wie man politische Prozesse organisiert. In der Türkei ist es leider so, dass die einen es missbrauchen, und die anderen es nicht handhaben können. Demokratie lebt vom Mitmachen der Demokraten. Und damit die Türkei eines Tages nicht nur auf dem Papier eine Demokratie ist, müssen die Türken lernen, dass „hätte, würde, sollte, müsste“ sie nicht weiterbringt. Man muss es auch tun.

Oder wie mein Vater sagen würde: „Bir yolu karanlik görüyorsan, bilki perde gözündedir, yolda degil.“ Liegt der Weg vor dir im Dunkeln, so wisse, dass der Vorhang vor deinem Auge ist, nicht vor dem Weg.

Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. An dieser Stelle schreibt sie immer montags über ihre Heimat.

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