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FÜNF  MINUTEN  STADT: Schöne Ketten

An einem späten Nachmittag in einem Zeitungskiosk in Neukölln. Es riecht nach heißem Schnellgericht und kaltem Rauch.

An einem späten Nachmittag in einem Zeitungskiosk in Neukölln. Es riecht nach heißem Schnellgericht und kaltem Rauch. Nicht sehr lange möchte man deswegen bleiben, bloß schnell das Nötigste einkaufen. Doch der kleine Junge, der gerade eben lesen kann, steht wie hypnotisiert vor dem Regal mit den Magazinen. „Kommst du, bitte?“ – „Nein.“ Er kann jetzt hier nicht weg, es gilt ein großes Problem zu lösen. Denn auf dem Titelblatt einer Zeitschrift wird ein philosophischer Aufsatz wie folgt beworben: „Was passiert, wenn nichts passiert?“ Allemal eine gute Frage, denkt man selbst, tatenlos hinter dem Jungen stehend, Schnellgericht- und Nikotingestank inhalierend. „Du, wir müssen weiter!“ – „Gleich.“ Seine Lippen bewegen sich lautlos, während er die Frage wieder und wieder liest und sie allmählich begreift. Es ist, als schwebte der Lichthof eines heiligen Ernstes über seinem blonden Köpfchen. Der Junge denkt nach, geht in sich, das Weltwissen eines Sechsjährigen durchmessend. Minuten vergehen. Stunden vielleicht? Was passiert, wenn nichts passiert? Dann muss etwas passieren! Nämlich: „Dann hängen sich Omas schöne Ketten um!“ Das verkündet der kleine Junge, als wäre dies und nur dies wahr, wendet sich zum Ausgang und sagt: „So. Jetzt können wir los.“ Er geht voran, man selbst hinterher. Überallhin wohl würde man ihm folgen. Dirk Gieselmann

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