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Berlin: Geld, Gier, Gewalt

Raubüberfälle auf Discounter: Die Täter haben leichtes Spiel, weil es in den Filialen an Personal und Technik mangelt. Zurück bleiben traumatisierte Opfer

Pünktlich um acht Uhr schließt Bianca Schmidt den Laden auf. Er liegt an einer belebten Einkaufsstraße. Es gibt viele andere Geschäfte, Laufkundschaft, Autos und Busverkehr. Um kurz nach acht kommt ein Kunde, kauft etwas, geht wieder. Um viertel nach acht steht sie vorn an der Kasse, kontrolliert, sortiert, erledigt Papierkram. Plötzlich Geräusche. Getrampel. Sie reißt den Kopf hoch, sieht, wie jemand die Tür von draußen zuzieht und davor stehen bleibt. Vor ihr steht ein zweiter und brüllt: „Das is’n Überfall!“ Sie schreit. „Dann hat er mich in den Schwitzkasten genommen und gebrüllt, ich soll ruhig sein, und Geld her, schnell, schnell! Großes Geld!“

Der Typ ist jung, hell gekleidet, hat ein Tuch vor dem Mund und eine Pistole in der Hand. Die hält er ihr mal an den Kopf, mal in den Rücken. Er schubst und schleift sie durch den Laden bis vor eine Tür, hinter der er den Tresor vermutet, und brüllt wieder. „Aufschließen! Sonst passiert dir was!“ Bianca Schmidt ist kein verhuschter Teenie, sie ist die Chefin des Ladens, in dem sie meistens allein arbeitet. Eine gestandene Frau, Mutter eines Teenagers. Aber sie ist so geschockt, dass sie den Schlüssel nicht gleich richtig ins Schloss kriegt. Der Typ droht wieder. „Und ich hatte nur den einen Gedanken im Kopf: O Gott, du hast ein Kind zu versorgen!“ Endlich ist der Tresor auf, der Typ schnappt das Geld und verschwindet mitsamt dem anderen, der vor der Tür Schmiere gestanden hat.

„Ich saß erst mal zwei, drei Sekunden auf dem Tresor und hab das sacken lassen. Dann bin ich nach vorn gerannt und hab den Laden abgeschlossen.“ Sie ruft die 110 an. „Ich hab geheult wie ein Schlosshund, ich war richtig kopflos.“ Der Polizist in der Funkzentrale muss nur hören, von wo aus sie anruft, um zu schalten. Bei der 110 kennt man solche Anrufe gut. Er versucht, sie zu beruhigen. Sagt, sie müsse keine Angst mehr haben, die Beamten kommen gleich. Sie fasst sich ein bisschen, ruft den Bezirksleiter an, ihren Chef. Und dann ihren Lebensgefährten. Mit ihm telefoniert sie so lange, bis die Polizei eintrifft. Auf ihre Kosten über Handy. Vom Ladentelefon aus sind Privatgespräche nicht möglich. Es steht auch im Büro, nicht im Laden. Bianca Schmidt ist so außer sich, dass die Beamten sie ins Krankenhaus fahren lassen.

Der Laden, den Bianca Schmidt leitet, ist eine der vielen Filialen eines großen Discounters. Sie verkaufen alles, vom Abschminktüchern bis Zwiebeln, von Windeln bis Hundekuchen. Im großen Stil, aber kleinteilig. Personalnotstand ist hier oft der Normalfall. Die Filialen sind die meiste Zeit mit einer einzigen Verkäuferin besetzt. Jeden zweiten Tag werden solche Läden allein in Berlin überfallen. Und das sind nur die Fälle, die bekannt werden. „Es gibt eine hohe Dunkelziffer“, weiß Achim Neumann von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. „Auch weil die Art und Weise, wie die Unternehmen damit umgehen, nicht gerade eine Motivation ist.“ Dafür, den Überfall der Polizei und der Berufsgenossenschaft zu melden. Dafür, sich die nötige Auszeit zu nehmen. „Da heißt es oft: Okay, heute hast du frei, aber morgen bist du bitteschön wieder da!“

Menschen, die an solchen Arbeitsplätzen ihr Geld verdienen müssen, leben gefährlich. Es sind fast zu hundert Prozent Frauen. Oft allein erziehende Mütter, oft in Teilzeit. Dabei gäbe es Möglichkeiten, die Gefahr für sie zu verringern. Eberhard Schönberg, dem Berliner Landeschef der Gewerkschaft der Polizei, fallen sofort etliche ein. Kein Wunder: Polizei wie Gewerkschaft versuchen seit Jahren, die Besitzer der Discount-Ketten davon zu überzeugen, mehr für den Schutz vor Kriminalität zu tun. „Es gibt so viel, von der einfachen Sirene draußen bis zum stillen Alarmknopf, der direkt mit der Polizei oder mit einem Wachunternehmen verbunden ist“, zählt er auf. „Es gibt Videoüberwachung, die zumindest einen Teil der Täter abschrecken würde. Es gibt die Möglichkeit, das Geld so zu verwahren, dass man jedenfalls nicht schnell drankommt.“ Systeme wie den Tresor im Tresor oder Cash-Boxen, die nur durch zwei Mitarbeiter geöffnet werden können. Dass sich so etwas herumspricht und Überfälle unattraktiv macht, haben die Geldinstitute gezeigt. Die Zahl der Banküberfälle ging deutlich zurück, nachdem neue Sicherungssysteme eingeführt worden waren. Genauer gesagt, die Räuber verlagerten ihr Interesse auf kleine, personalschwache Zweigstellen ohne die neuen Sicherungssysteme. „Täter, die Discounter überfallen, sind zwar bunt gemischt, aber sie versuchen immer, das geringste Risiko einzugehen“, fasst Schönberg zusammen. „Sie sagen uns auch klipp und klar, sie haben sich diesen und diesen Discounter ausgesucht, weil dort nur ein Mensch im Laden ist und weil sie unerkannt verschwinden können.“

Zurzeit läuft wieder einmal ein Prozess gegen mehrere Täter, die in fünf Monaten 27 Drogeriefilialen ausgeraubt haben. Die Verlockung, sich Geld mit Gewalt zu beschaffen, wird vermutlich in naher Zukunft nicht von selbst nachlassen. Verdi-Mann Achim Neumann geht sogar davon aus, „dass das Problem sich verschärft. Wenn man auf die Straßen und Plätze geht, sieht man es doch: Immer mehr Menschen verarmen, weil sie arbeitslos werden. Besonders die jungen haben kaum eine Perspektive, aber gleichzeitig gibt es so einen gesellschaftlichen Druck, dass schon Kinder teure Klamotten haben müssen, weil sie sonst in der Schule vielleicht verprügelt werden. Da ist der schnelle Euro gefragt!“

Kriminalität und Ökonomie sind eng miteinander verknüpft. Das ist nicht neu. Neu ist nur die immer ungerechtere Verteilung von Kosten und Gewinnen. Unternehmer investieren zu wenig in die Sicherheit ihrer Mitarbeiter und machen damit Gewinn. Die Kosten trägt das Opfer der vermeidbaren Überfälle persönlich. Und immer wieder kosten die das Leben wie in Berlin zuletzt im Dezember 2005, als die Verkäuferin einer Drogeriefiliale bei einem Raubüberfall erstochen wurde. Für ihre Familie und ihre Kolleginnen hat das Leben seitdem einen tiefen Riss. Polizeigewerkschafter Eberhard Schönberg weist noch auf weitere Folgekosten hin: „Die Opfer von Überfällen sind traumatisiert, sie sind wochen-, manchmal monatelang krank. Die Kosten dafür zahlen Sozialversicherungsträger und die Krankenkassen – also wir alle, die da einzahlen.“

Raubüberfälle sind keine Kavaliersdelikte. Wenn sie bewaffnet passieren, und das tun sie immer häufiger, sind sie Verbrechen. Doris Rieder ist schon zweimal Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Das erste Mal ist Jahre her. Sie hat nur noch nebelhafte Fetzen davon im Bewusstsein. Aber als es das zweite Mal passiert, bricht der ganze Schrecken des ersten Mals wieder auf. Sie ist Verkäuferin in einer kleinen Filiale am Stadtrand. Mutterseelenallein wie immer. „Das waren drei, die sind reingekommen, einer hatte eine Pistole, ein anderer ein Messer und alle dunkel, mit Skimützen.“ Der mit der Pistole herrscht sie an, sie solle nach hinten gehen und den Tresor aufschließen. „Die haben das Geld genommen und tschüss, weg waren sie. Das ging ganz schnell, zwei Minuten vielleicht.“

Nach dem ersten Überfall war sie nach draußen gelaufen und hatte gewartet, bis der Mann vom Wachdienst kam, den die Firma damals noch beschäftigte. „Beim zweiten Mal war ich total fertig. Da kannst du nicht mehr denken. Da ist nix mehr. Du bist einfach nur froh, dass du noch lebst!“ Doris Rieder, allein erziehende Mutter dreier Kinder, von denen zwei noch von ihrem Einkommen abhängig sind, ist schmal und blass. Das Erlebte hat Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, und die Hände zittern beim Erzählen. Dabei lacht sie eigentlich viel lieber. So wie Bianca Schmidt auch. Die beiden können giggeln und gackern wie Backfische, wenn sie sich nicht erinnern müssen. Nichts wäre schöner, als die Bilder, die Gerüche, die Geräusche vergessen zu können. Am liebsten würden sie nie wieder ihre Geschichte erzählen müssen. Aber sie müssen, finden sie. Weil es anderen helfen kann. Und dadurch vielleicht wiederum ihnen hilft. Denn sie haben noch einige Jahre Arbeitsleben vor sich.

Bianca Schmidt und Doris Rieder heißen in Wirklichkeit anders, auch einige Details sind verändert, um sie zu schützen. Nicht vor der Rache der Räuber, die werden nur selten erwischt. Geschützt werden müssen sie vor ihrem Arbeitgeber. Denn die Furcht, dass ihnen plötzlich jemand eine Pistole an die Schläfe hält, ist nur die Spitze eines ganzen Klimas der Angst, das bei manchen Discountern herrscht und auf dem die Gewinnmargen beruhen. Bei jeder Kleinigkeit gibt es eine Abmahnung oder wird gleich mit Kündigung gedroht. Es gibt Taschenkontrollen und Schikanen aller Art.

Auf Unterstützung von der Firma haben Bianca Schmidt und Doris Rieder vergebens gehofft. „Bei mir kam gleich der Bezirksleiter, und der hat so auf mich eingeredet“, erzählt Bianca Schmidt, „dass die Polizisten ihm gesagt haben: Jetzt lassen Sie doch die arme Frau mal in Ruhe und halten Sie den Mund!“ Dass sie sich nicht beim Hausarzt, sondern bei einem Unfallarzt krankschreiben lassen muss, erklärt er ihr nicht. Das erfährt sie von der Psychologin, die ihr eine Kollegin vermittelt. Die war selbst überfallen worden. Und sie hat noch einen wertvollen Tip: „Sag der gleich, von welcher Firma du kommst, dann kriegst du sofort einen Termin!“ Bianca Schmidt und Doris Rieder wachen immer noch manche Nacht schweißgebadet auf, weil sie die Typen, die sie in ihrer Gewalt hatten, plötzlich vor sich sehen. Doris Rieder schreckt bei jedem, der eine Skimütze aufhat, zusammen, Bianca Schmidt bei jedem Trampeln. Beide haben monatelang mit psychologischer Hilfe wieder lernen müssen, Dunkelheit auszuhalten, im Winter Bus zu fahren, wenn Leute Skimützen aufhaben, oder einfach ihre Filialen zu betreten, sich drinnen aufzuhalten, Stunde um Stunde, und dann da wieder zu arbeiten. „Die erste Woche allein war die Hölle“, sagt Bianca Schmidt. „Aber mir blieb ja nichts anderes übrig.“ Nicht mal eine andere Filiale hat sie übernehmen dürfen. Doris Rieder hat sich gar nicht erst um einen Ortswechsel bemüht. Ihr würde nur, helfen, „wenn ich genau wüsste: Da könnte ich nicht überfallen werden.“

Keine der beiden mag darüber nachdenken, was wäre, wenn es wieder passiert. Oder wenn diesmal jemand zusticht. Überfälle sind rentenversicherungstechnisch Arbeitsunfälle, Rubrik „Gewaltanwendung durch Menschen“. Die Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel hat ermittelt, dass diese Rubrik inzwischen der dritthäufigste Grund für Unfallrenten ist.

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