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Berlin: Generalprobe für den Pfarrer

Martin Germer ist der Neue in der Gedächtniskirche. Heute predigter erstmals

Von der Auenkirche in Wilmersdorf zur Gedächtniskirche am Breitscheidplatz sind es zwei Kilometer. Dazwischen liegen Welten. In der romantisch-dörflichen Welt der Wilhelmsaue ist Martin Germer seit 15 Jahren Pfarrer. Heute um 10 Uhr hält er zum ersten Mal den Gottesdienst in der Gedächtniskirche, eine Art Generalprobe. Ab 1. September ist er der neue Pfarrer des wohl bekanntesten evangelischen Gotteshauses in Deutschland.

Gedächtniskirche bedeutet im Rampenlicht stehen, mit Prominenten und Journalisten umgehen, Gastgeber für zigtausende Touristen sein. Der 48-Jährige Germer musste erst mal ein paar Tage in sich gehen, als das Angebot kam. Der große, nicht ganz schlanke Mann ist keiner, der sofort sagt, ich mache alles, ich kann alles. Aber wenn die mir das zutrauen, habe er dann gedacht, dann traue ich mir das auch zu. „Seitdem steigt die Vorfreude von Tag zu Tag“, sagt Germer mit tiefer Stimme und zwinkert mit den Augen. Auch wenn er, seine Frau und die elfjährige Tochter künftig nicht mehr in dem Park hinter der Auenkirche wohnen und statt ins Grüne auf die befahrene Lietzenburger Straße schauen werden.

Im Noch-Arbeitszimmer liegt ein Gitarrenkoffer auf dem Schrank, im Regal steht der Bildband „Jesus in Glauben und in der Kunst“, auf dem Tisch eine Kerze und eine Bibel: übliches Rüstzeug für einen evangelischen Pfarrer. Nicht üblich ist der Erfolg, den Germer und seine beiden Pfarrerskollegen damit haben: die Auengemeinde ist eine der lebendigsten in Berlin. Sonntags sind die Kirchenbänke voll, zu den Konzerten und zum Sommerfest kommen die Berliner aus allen Teilen der Stadt und schicken ihre Kinder hier zum Konfirmandenunterricht. Germer und seine Kollegen sprechen die Leute an und predigen so, dass man nicht gleich beim ersten Satz weiß, wie der letzte sein wird.

Seine Gottesdienste in der Gedächtniskirche müssen nicht nur gut, sondern erstklassig werden, sagt Germer – außergewöhnlich, so wie das Gebäude. Wenn sich Touristen die Mühe machten und im Urlaub in die Kirche gehen, müsse man etwas Besonderes bieten. Die Gedächtniskirche sei ein „Resonanzboden“. Sein fast 80-jähriger Vater war Leiter der wissenschaftlichen Prüfstelle und hatte sein Büro um die Ecke. Erst kürzlich habe er ihm erzählt, dass er oft in das bläulich schimmernde Oktogon kam, wenn er nachdenken wollte.

Für solche Leute müsse die Kirche möglichst immer offen sein, auch Nachtschwärmer will Germer locken. Patentrezepte habe er keine, aber Lust, Neues auszuprobieren.

Für Germer ist nichts selbstverständlich. Er lässt Zweifel zu, Zweifel auch im Glauben. Seine Aufgabe sei nicht, letzte Wahrheiten zu verkünden, sondern „für andere Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, auch wenn sie noch vorläufig sind.“ „Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen“ – diesen Psalm hat er sich vor vielen Jahren als Konfirmationsspruch ausgesucht, wohl eher zufällig. Mittlerweile aber seien die Zeilen ein roter Faden in seinem Leben. Meistens war es positiv, was er gefunden hat. „Mir ist im Leben immer alles zugefallen“, sagt Germer. Bis vor acht Jahren, als er seine erste Frau verloren hat.

Im Arbeitszimmer hängen Fotos von Berggipfeln, ein See im Abendlicht. Martin Germer hat sie selbst aufgenommen. Er liebt es, auf Berge zu steigen, immer noch. Obwohl seine erste Frau einen Steilhang hinabgestürzt ist. Er lief zehn Meter vor ihr. Irgendwie sei ein Stück Bergkante abgebrochen, sagt Germer, seine Hände zittern leicht. Der Schmerz, die Trauer, jetzt werde er sehen, ob etwas dran ist an dem, was er sonst immer anderen Trauernden erzähle. Er sei sicher, dass seine tote Frau bei Gott ist. So habe er wieder eine neue Antwort gefunden, eine Bestätigung für seinen Glauben. Ein schönes Gefühl sei das gewesen, sagt er und strahlt. So wird es auch an der Gedächtniskirche weitergehen mit dem Suchen und Finden. Martin Germer ist gelassen, bisher ist er damit ziemlich glücklich geworden.

Claudia Keller

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