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Berlin: Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen erklärt in einem Interview, warum es so schwer ist, Diktatoren zu bestrafen

In Alt-Moabit 100 stehen die Umzugskisten auf dem Flur. Juristen gehen, andere kommen.

In Alt-Moabit 100 stehen die Umzugskisten auf dem Flur. Juristen gehen, andere kommen. Normale Kriminalitätsbekämpfer ziehen ein. Die Justizgeschichte blättert ein Blatt um. "Am 30. September schließt dieses Haus", sagt Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen. Die Staatsanwaltschaft 2 in Berlin, zuständig für DDR-Regierungskriminalität, DDR-Justizunrecht und vereinigungsbedingte Wirtschaftskriminalität, macht dicht. Seit der Wiedervereinigung war die Schaefgen-Abteilung und spätere Anklagebehörde dafür zuständig, das DDR-System - seine Polit- und sonstigen Bürokraten, seine Mitläufer und Schmarotzer, sein Mauer-Regelwerk und seine Schützen - strafrechtlich zu durchleuchten. Der Erfolg wird unterschiedlich bewertet. Statistisch ist er mager. Gerade einmal 587 Anklagen hat es gegeben. Lediglich 211 ehemalige DDR-Bürger wurden verurteilt, meist zu Bewährungsstrafen. Gerade zwei Dutzend mussten hinter Gitter.

Justizsenator Ehrhart Körting hat im vorigen Jahr gesagt, dass die juristische Bewältigung des DDR-Unrechts "eher eine Feststellung von Schuld als die Festlegung von Sühne" gewesen sei. Sein Generalstaatsanwalt war immer ein Gegner einer Amnestie, aber für eine Amnestie geben schon allein die Zahlen nichts her. Man würde "niemanden damit erreichen", hat Körting dazu gesagt.

Die Justiz hat also vornehmlich das Ziel erreicht, Unrecht und Menschenrechtsverletzungen zu benennen. Haftbar machen konnte sie nur Wenige dafür. Einerseits war sie an das DDR-Recht gebunden. Andererseits konnte sie sich nur dann auf übergeordnetes Menschenrecht berufen, wenn es um staatliche "Exzesse" gegen DDR-Bürger ging. Die relativ geringe Zahl von Verurteilungen und die relativ geringe Strafhöhe fechten Schaefgen aber nicht an. Er war durchgehend davon überzeugt, dass der strafrechtliche Blick auf die DDR notwendig und richtig war. Kritiker, die gegen das Strafrecht die Versöhnung ins Feld führen oder von Siegerjustiz und von "politischen Prozessen" sprechen, haben ihn nicht ins Wanken gebracht.

Allerdings sieht er nicht nur die DDR. Sein internationaler Blick hat sich geschärft, wie er heute sagt. Diktatoren und ihre Gehilfen sollten immer verfolgt werden und überall, sagt der Generalstaatsanwalt. In Europa besteht offenbar aber kein Interesse daran, die Erfahrungen dieses einmaligen Versuchs zu nutzen: die Menschenrechtsverletzungen eines Regimes gezielt vor Gericht zu bringen. Schaefgen, der 62 Jahre alt ist und gerne bis zum 65. Lebensjahr weitermachen möchte, kann nur in Berlin weiter wirken. Er soll zum 1. Oktober eine "Zentralstelle zur Unterstützung der historischen Aufarbeitung des DDR-Unrechts" übernehmen. Er selbst ist der Meinung, dass noch lange nicht alles aufgearbeitet ist - weder bei den Schreibtischtätern noch den Mitläufern.

Juristisch sieht das Ergebnis so aus: 106 Anklagen gab es wegen Gewalttaten an der Grenze, 69 wegen Justizunrechts, 55 wegen Wirtschaftsdelikten, 44 wegen Stasi-Straftaten, zehn Vermögensstraftaten, und 13 "sonstige" (Wahlfälschung, Doping). Vier Mitglieder der politischen Führung wurden rechtskräftig verurteilt, 20 Mitglieder der militärischen Führung und 71 Angehörige der Grenztruppen. 22 102 Verfahren wurden eingestellt. 149 sind noch offen.

Herr Schaefgen, was halten Sie von Erich Honecker?

Ich würde auf die Frage mit dem Sprichwort de mortuis nihil nisi bene antworten, "über Tote nichts Böses" .

Haben Sie ihn persönlich erlebt?

Nur einmal, als ich in der Sitzung als Anklagevertreter aufgetreten bin.

Was sagen Sie zu verschiedenen Einschätzungen, wonach er menschlich sehr aufrecht und nicht wehleidig durch dieses Verfahren gegangen ist?

Ja, das würde ich schon sagen. Von Wehleidigkeit war nichts zu spüren. Er stand zu dem, was er getan hatte. Er war uneinsichtig, wie es von einem alten Mann, der so lange Jahre an der Spitze dieses Regimes gestanden hat, nicht anders zu erwarten ist.

Uneinsichtigkeit werfen Sie den meisten ehemaligen Verantwortlichen der DDR vor.

In der Spitze, ja! Man konnte mit ganz, ganz wenigen Ausnahmen in den militärischen oberen Rängen nicht feststellen, dass diese Personen auch im Rückblick in einen Nachdenkungsprozess eingetreten sind. Sie haben es nach wie vor für richtig gehalten.

Was sagen Sie zu Egon Krenz?

Krenz ist der Prototyp derer, die so handeln. Er hat nichts dazugelernt seit der Wende.

Sehen Sie dann überhaupt irgendwelche Wirkungen Ihrer Prozesse?

Ich würde diese Wirkungen nicht messen an den Äußerungen derer, die wir als Täter verfolgt haben. Deren Zeit ist vorbei. Ich glaube auch nicht, dass sie durch ihre öffentlichen Äußerungen noch eine große Wirkung bei der Bevölkerung erzielen können. Viel wichtiger ist das Urteil der Bürger der ehemaligen DDR selbst. Und da meine ich, dass es Umfrageergebnisse gegeben hat, wonach die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit auch notwendig war. Um klarzustellen, dass die DDR die Wahrheit auf den Kopf gestellt hat, indem sie Menschen, die von ihren natürlichen Rechten - wir nennen das Grundrechte und Menschenrechte - Gebrauch machten oder Gebrauch machen wollten, zu Straftätern machte.

Was haben Sie dazugelernt im Laufe der Jahre? Gab es Momente, wo Sie dachten, Gott, das hätte ich ja nun doch nicht erwartet. Sowohl positiv wie negativ?

Im Positiven habe ich da keine Feststellungen treffen können. Im Negativen schon. Dass also doch ein großer Grad an Verlogenheit dieses Regime auszeichnete, insbesondere was sein Auftreten nach außen anbetraf, also ein Verhalten, dass ihm die Türen als Mitglied in der zivilisierten Gesellschaft öffnen sollte und auf der anderen Seite das Verhalten gegenüber der eigenen Bevölkerung.

Was denken Sie, wenn Sie sehen, dass in der Nazi-Zeit so viele Mitläufer für das Regime gearbeitet haben und in der DDR so viele IM?

Es gibt kein diktatorisches Regime, das jedenfalls über lange Zeit ohne die Unterstützung oder das Mitmachen oder das Dulden der Bevölkerung existieren kann. Das ist ein Phänomen, dass Derartiges möglich ist.

Können Sie sich sozialpsychologisch erklären, warum so viele Leute so gering honorierte und so unsinnige Spitzeltätigkeiten übernehmen, wie das geschehen ist?

Da bin ich überfragt. Ich bin kein Soziologe. Es gibt da sicher viele Motive, das zu tun. Da kann das Geld eine Rolle spielen, da kann die Überzeugung eine Rolle spielen, einer guten Sache zu dienen. Da kann Opportunismus eine Rolle spielen.

Kann man den Satz "Die DDR war ein Unrechtsstaat" ohne jegliche Einschränkung stehen lassen?

Das sind politische Bewertungen, die vorgenommen worden sind. Und wir als Strafjuristen hatten eine andere Aufgabe. Der damalige Bundesjustizminister hatte es für meine Begriffe unglücklich formuliert, dass wir Ankläger zur "Delegitimierung" der DDR beitragen müssten.

Sie sollten zur Delegitimierung der DDR beitragen durch Strafverfahren? Wer hat das gesagt?

Herr Kinkel auf einem Forum im Juni 1991.

Und diese Jacke wollten Sie sich nicht anziehen?

Wir haben sicherlich, weil wir Unrecht feststellen und zwar strafbares Unrecht, dazu beigetragen. Nur hat man sich zu stark fokussiert auf die strafrechtliche Verfolgung. Wenn man die DDR an der geringen Zahl der Verurteilten und an den eingeschränkten Verfolgungsmöglichkeiten misst, dann reicht das nicht, um zu sagen, die DDR war ein Unrechtsstaat. Da ist zusätzlich eine gesellschaftliche Aufklärung erforderlich, die die Mechanismen, wie dieses System funktionierte, und die Unterdrückung brandmarkt.

Die gesellschaftliche Aufklärung hat versagt oder ist nicht ausreichend erfolgt?

Sie ist noch nicht am Ende. Sie muss fortgeführt werden, nachdem die strafrechtliche Seite abgeschlossen ist. Ich denke da insbesondere auch an die Pädagogik, also das, was in den Schulen gemacht worden ist. Ich kann heute keinen Lehrer dafür strafrechtlich zur Verantwortung ziehen, dass Hass gegen den Klassenfeind gepredigt worden ist, oder dass die Grenzsicherung gerechtfertigt worden ist, dass jeder, der die DDR verlassen wollte, ein Verbrecher sei oder dergleichen. Das kann ich strafrechtlich überhaupt nicht in den Griff bekommen. Das, meine ich, muss gesellschaftlich aufgearbeitet werden. Die Rechtsprechung hat es immer wieder gesagt: Auch der Primitivste weiß, dass man einen Menschen nicht dafür erschießen darf, dass er eine Grenze übertritt. Diejenigen, die dafür verantwortlich sind, dass die Schützen so gehandelt haben, also Recht und Unrecht nicht mehr so in sich aufnehmen konnten, dass sie sich den Befehl widersetzt hätten, das sind die Scharfmacher. Und an die komme ich nicht ran. Das muss in einem gesellschaftlichen, außerstrafrechtlichen Prozess viel stärker zum Ausdruck gebracht werden. Das sind Hintermänner, die völlig im Dunkeln bleiben. Die Vielen eben, die drum herum waren und befehlsgemäß indoktriniert haben, die kriegen wir nicht.

Aber ist es nicht viel zu spät, das noch zu diskutieren? Wir befinden uns doch eher in einer Phase der Verklärung der DDR.

Dem sollte man ja auch widersprechen. Gerade wenn es so ist, muss die Stimme ja immer wieder erhoben werden.

Wenn man aber gerade dieses Versäumnis beklagt, hat es denn angesichts der paar Dutzend Verurteilten im Rückblick irgendetwas gebracht, diese Prozesse zu führen?

Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es richtig war. Man muss ja mal die andere Frage stellen: Wie wäre es denn, wenn wir es nicht gemacht hätten? Welche Wirkung hätte das also auf das Rechtsbewusstsein gerade auch der Bevölkerung im Ostteil Deutschlands gehabt? Hätte man das unterlassen, dann hätte man praktisch zum Ausdruck gebracht, auch wir halten nicht viel vom Recht. Das wäre ein schwerer Schlag gewesen.

Könnte man nicht auch sagen, dass der Justizberg hier eine Maus geboren hat, wenn man das Ergebnis betrachtet?

Das ist eine Betrachtung, die sich nur an Zahlen orientiert, aber nicht an dem Wirken insgesamt. Man darf doch nicht außer Acht lassen: Die DDR hat immer behauptet und die noch lebenden ehemaligen Führer tun es auch heute noch: Wir waren ein Staat. Alles das, was sie geregelt haben, war für sie Recht. Es kann aber nicht sein, dass wir einfach heute sagen würden: Ein Staat hat unbegrenzte Macht. Und es gibt keine Trennung mehr zwischen Recht und Macht. Staatlichem Handeln müssen Grenzen durch Recht gesetzt werden. Die Nürnberger Prozesse haben diesen Grundsatz geboren. Und die deutsche Justiz hat ihn sehr spät aufgegriffen, fast zwanzig Jahre nach den Geschehnissen. Aber diese Nürnberger Prinzipien sind jetzt wieder verwirklicht worden, übrigens in Bezug auf ein Unrecht, das nicht die Dimension des nationalsozialistischen Unrechts hatte.

Wie können diese Prinzipien instrumentell fester verankert werden? Was muss also geändert werden: das Völkerrecht, die Menschenrechte?

Es gibt ja Unbehagen in zweierlei Richtung: Das eine war der Blick in die deutsche Vergangenheit: Wenn man gesehen hat, wie die deutsche Justiz mit ihren Richtern und Staatsanwälten nach 1945 umgegangen ist. Und ich habe das gesagt und bleibe auch dabei, das schwingt heute mit. Man kann sich davon einfach nicht ganz frei machen. Und auf der anderen Seite ist es der Blick in die Gegenwart. Man kann doch die Augen nicht davor verschließen, dass Andersdenkende - mir fällt etwa die Sekte Falun Gong in China ein - an vielen Stellen verfolgt werden. Ich bin in China erinnert an die Verfolgung der Zeugen Jehovas durch die Nationalsozialisten. Die Politiker geben auch Erklärungen dazu ab. Aber haben Sie schon einen gehört, der den Mut hatte zu sagen, das ist strafbar? Es ist strafbar, wenn man das Recht dieser Menschen, ihre Überzeugung auszuleben, ohne die staatlichen Interessen oder die Interessen anderer Menschen zu gefährden, mit den Mitteln der Justiz untersagt - mit ungerechtfertigten, unverhältnismäßigen Eingriffen in die Freiheit dieser Leute.

Schon wahr. Aber dann kommt als zweiter Satz: Aber das Völkerrecht!

Was heißt das Völkerrecht? Das Völkerrecht verbietet niemandem, ein Werturteil über das Verhalten eines anderen Staates oder der Funktionäre dieses Staates zu treffen. Das kann allenfalls eine diplomatische Zurückhaltung sein, die opportun erscheint.

Ist das nicht automatisch auch eine Kritik an der westdeutschen politischen Klasse, die doch jahrzehntelang gesehen hat, welches Unrecht in der DDR passiert ist?

Nicht, dass man geschwiegen hat. Wir hatten ja die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter.

Aber man hat Herrn Honecker in Bonn empfangen, mit Pauken und Trompeten.

Ja, das ist wohl wahr, ja. Dem kann ich nicht widersprechen. Aber es hat niemanden gegeben, würde ich sagen, der nicht klare Worte über die Verhältnisse in der DDR verloren hat.

Engt man die Politik nicht zu sehr ein, wenn man Außenpolitik ausschließlich unter strafrechtlichen Kriterien betrachtet?

Es wird ja häufig gesagt, dass es so ist. Ich habe aus dieser Tätigkeit ein Bewusstsein für die Universitalität der Menschenrechte gezogen. Ich kann nicht mehr nur mit Scheuklappen auf das Unrecht einer Region der Welt sehen und so tun, als wenn es sonst keins mehr gäbe. Ich vermisse in diesem Zusammenhang eben, dass man nicht öffentlich erklärt hat, es gab nicht nur in der DDR Unrecht, es gibt es auch heute noch.

Wäre Pinochet nicht ein gutes Objekt für Sie?

Das, wovon ich träume, ist natürlich eine Kodifizierung von Menschenrechtsverletzungen im Völkerstrafrecht.

Müsste dann nicht der malträtierte Bürger das Recht bekommen, seine Staatsführung irgendwo anklagen zu können?

Ja, in Europa ist das ja schon in etwa der Fall.

Sie müssten also beispielsweise auch die Mullahs im Iran vor Gericht stellen.

Ohne Zweifel. Aber solange ich doch kein Strafgesetz habe, das bestimmte Verhaltensweisen unterhalb der Tötung von Menschen unter Strafe stellt, kann ich doch auch keinen Ankläger als verletzter Bürger anrufen.

Glauben Sie, wir werden irgendwann so weit kommen, dass alle klar identifizierten Diktatoren dieser Welt die Gefahr sehen müssen, vor Gericht gestellt zu werden?

Also ich meine, wir sind auf dem Weg. Das, was mit Pinochet geschehen ist und das Tribunal in Den Haag, das sind doch alles hoffnungsvolle Signale in diese Richtung. Ich sehe natürlich auch, dass die Institutionen selbst noch sehr schwach sind. Aber hätten Sie vor 20 Jahren geglaubt, dass es mal dahin kommen könnte? Nur, das sind im ehemaligen Jugoslawien nun wirklich die Extremfälle von Verbrechern und Verbrechen, die da verfolgt werden und mit solchen Verhaltensweisen hatte ich es hier in meiner Tätigkeit ja nicht zu tun. Ich will es aber nicht wahrhaben, dass ein Mensch, der in eine Diktatur hineingeboren wird, sein Schicksal genauso annehmen muss, weil es unausweichlich ist, wie ein Mensch, der mit irgendeiner Behinderung zur Welt kommt. Da muss sich die Völkergemeinschaft wirklich entschließen, darüber nachzudenken: Was sind die Mindeststandards, die gewährleistet werden müssen, damit einer ein würdevolles Leben führen kann. Das ist das, was ich hieraus gelernt habe und was mir immer als Frage durch den Kopf geht.

Da könnte man sich nur wünschen, dass Sie in Zukunft nicht nur zur Unterstützung der dokumentarischen Aufarbeitung der DDR arbeiten, sondern für Europa, international .

Würde ich gerne tun, aber ich bin ja ein ziemlich altes Baujahr, und da greift man nicht mehr so gerne darauf zurück.

Haben Sie sich verändert im Laufe dieser Jahre.

Ja, ich bin viel bewusster geworden. Ich nehme das Geschehen unter dem Gesichtspunkt von Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern viel stärker auf. Ich denke jetzt auch an Ost-Timor, weil ich da sehe, wie die UNO zwar freie Wahlen durchsetzt, aber jetzt hilflos ist bei dem Bemühen, die paramilitärischen Gräueltaten zu verhindern.

Herr Schaefgen[was halten Sie von Erich Honecker?]

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