zum Hauptinhalt

Berlin: Gerhard Ehrlicher (Geb. 1926)

Als ob das Schicksal ihm die drei schönen Jahre übel genommen hätte.

Von David Ensikat

Irgendwann, Anfang der neunziger Jahre, fuhr er in seine alte Heimatstadt und traf zufällig auf eine Frau, die einmal seine Verlobte gewesen war und die ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Mehr als vierzig Jahre waren vergangen. Sie sagte: „Versteh doch.“ Und: „Es war anders, als du denkst.“

„Lass uns nicht darüber reden“, sagte er, „das ist vorbei.“ Er war nicht verbittert. Seine Frau ist sich sicher, er war wirklich nicht verbittert.

Die schönsten Jahre seines Lebens waren die drei Jahre nach dem Krieg. Er wusste, wie wertvoll das Leben war, nachdem er an der Front gelernt hatte, wie wenig ein Leben wert sein konnte. Er begann eine Lehre zum Kartografen, und er liebte die Frauen. Es gab viele schöne Frauen, deren Männer nicht zurückgekommen waren. Er lebte in Sonneberg, Thüringen, gleich an der Grenze nach Bayern. Da lief er oft hinüber, wie man das so tat, um Lebensmittel und andere Dinge von Wert hin- und herzuschmuggeln.

Er verlobte sich, liebte eine zweite Frau nebenher, die Verlobte und die Zweite erfuhren voneinander. Sie beschlossen, ihn nicht zu teilen, sondern zu bestrafen. Die sowjetische Besatzungsmacht war dankbar für jeden Hinweis auf Schmuggler und Verräter. Sie veranstaltete ein Militärtribunal, von dessen Ratschlüssen er kein Wort verstand; das Urteil: 25 Jahre Arbeitslager wegen Spionage.

Es war, als ob das Schicksal ihm die drei schönen Jahre übel genommen hätte. Einer wie er, mit 17 in den Krieg, Kanonenfutter, war doch eigentlich dafür bestimmt gewesen, im Krieg zu bleiben.

Neun Jahre verbrachte Gerhard Ehrlicher im Bautzener Gefängnis, 1956 ließ man ihn frei. Er ging nach West-Berlin, hatte Glück und bekam eine Stelle bei der Bauverwaltung. Er hatte nie eine Ausbildung abgeschlossen, von einem Studium ganz zu schweigen. Dass er es dennoch bis in eine Stellung brachte, die für Diplom-Ingenieure vorgesehen war, lag an seinem ganz und gar ungebrochenen Wesen.

Dies war ein Mann, der die Schicksalsschläge der Vergangenheit nicht persönlich nahm. Die einen sehen sich allein, ihr Unglück. Die anderen, jene von Gerhard Ehrlichers Schlag, blicken sich um und sehen, dass das eigene Unglück noch ein Glück sein kann, wenn doch alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Gerhard Ehrlicher hatte den Krieg erlebt und Bautzen. Entscheidend war: Er hatte beides überlebt.

Seine Frau, er hat sie zu Beginn der Siebziger kennengelernt, sagt, er habe anderen lange nicht von seiner Bautzen-Zeit erzählt. Er begann damit erst und tat es dann auch öfter, als er merkte, dass er die Leute unterhalten konnte, dass er ihnen nicht zu nahe trat. Er erzählte ihnen allerdings nicht die schlimmen Sachen, nicht, wie dort die 16-Jährigen Selbstmord begingen, wie es ist, tagelang in einem dunklen Keller im Wasser zu stehen, nicht, wie die Leute in der Krankenstation krepierten. Er erzählte, wie er im Knast Transparentzeichner und Kalligraf wurde. Wie er einem Wärter half, sinnlose, aber erfüllbare Pläne zu erfinden. Wie die Gefangenen 1954 vom Sieg der Fußballdeutschen über die Ungarn erfuhren. Die schlimmen Sachen erzählte er nur seiner Frau. Und selbst da machte er den Eindruck, als habe er das alles einordnen können, in einen Winkel seiner Seele, der weit entfernt vom Zentrum lag.

Was für ein Glück das war, wurde ihr bewusst, wenn sie ihn zu den Treffen begleitete, ein Mal im Jahr, bei denen ehemalige Bautzen-Häftlinge zusammenkamen. Er war der Plauderer, der gut Gelaunte zwischen lauter Kette rauchenden Wracks.

Ein einziges Mal merkte sie, dass selbst in ihrem Mann, dem Stämmigen mit dem Kirk-Douglas-Gesicht, die Bautzen-Erinnerungen aus ihrem Seelenwinkel mitten ins Zentrum hervorstoßen konnten. Es war bei einem dieser Ehemaligen-Treffen auf dem Gelände des Gefängnisses. Als sich hinter ihnen das große Stahltor schloss, mit lautem Dröhnen, da wurde er weiß im Gesicht, kreideweiß.

Und dann war da noch etwas im Wesen dieses freien, gut gestimmten Mannes, das man als Folge der neun Jahre deuten mag. Er war ganz und gar unwillig, sich zu mäßigen, Verzicht zu üben. „Strafgefangener Ehrlicher bittet, vorbeigehen zu dürfen!“, hatte er im Knast rufen müssen. Der Bürger Ehrlicher wollte niemanden mehr um eine Erlaubnis bitten. Wenn er Lust hatte, mehr zu essen, als ihm gut tat, so aß er mehr. Wenn er eine Zigarette rauchen wollte, obwohl seine Frau dagegen war, so rauchte er. Mit ihm über diese Dinge zu diskutieren, womöglich noch mit Wörtern wie „Disziplin“, „Verantwortung“, hatte keinen Zweck.

Zum Ende seines Lebens kamen Gerhard Ehrlicher die Erinnerungen abhanden. Es waren immer weniger Dinge, über die er noch sprach. Bautzen gehörte lange dazu, allerdings nicht die unterhaltsamen Geschichten. David Ensikat

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false