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Berlin: Gesicht gezeigt

Die Malerin Antoinette hat eine Idee: Sie will 100 Menschen porträtieren. Vielleicht sitzt ja auch der Kanzler bald Modell. Heute isst sie bei ihm zu Abend.

Die Glogauer Straße liegt im übelsten Berliner Dezembergrau. Keine Farbe, nirgends. Zweiter Hof, zweite Etage, hatte die Malerin über ihr Kreuzberger Atelier gesagt. Und da steht ja auch schon ihr Name auf einem Schild – „ANTOINETTE“. Mehr nicht. Klingeln. Die Tür öffnet sich – Sekunden später fühlt man sich wie heimgekommen. Wohlig warm ist es drinnen, gemütlich fast. Dabei umgibt einen keine behagliche Wohnung, sondern 75 Quadratmeter ehemaliger Fabrikraum. Das ist seit rund zwei Jahren der Ort, an dem die Malerin Antoinette arbeitet. Die grazile Frau mit der unbändigen Haarpracht komplimentiert ihren Besuch in eine Sitzecke, fragt im freundlich-sächsischen Tonklang „Kaffee oder Tee?“ und entschwindet. Selbst sinkt man derweil überwältigt in einen der bequemen Sessel – und blickt Egon Bahr ins Gesicht. Der sitzt einem mit der Pfeife in der Hand genau gegenüber – als lebensgroßes Porträt. Der altgediente SPD-Kämpe befindet sich bei der 56-jährigen Antoinette in sehr gemischter Gesellschaft. Berliner Gesellschaft. Die grüne Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer zeigt sich schon mit seelenvollem Blick, ansonsten aber erst mit Bleistift skizziert. Friede Springer sah man schon besser angezogen, und Anne Momper wartet noch auf ihren Walter, um künstlerisch vollendet zu sein. Hilmar Thate verzweifelt sichtlich gerade an der Welt. Auch Unbekannte gibt es – eine junge Kubanerin zeigt ernst ihr Hochzeitskleid und kokett ein Stück Bein; ein dicker Mann führt ein schrilles Fantasie-Outfit vor. „Der war mir in der U-Bahn aufgefallen“, sagt Antoinette. Sein Porträt kam sie teuer zu stehen – „er hat mich tierisch bestohlen.“

Dabei braucht sie jeden Cent. Im Juni 2003 will sie ihre Gesellschaft öffentlich machen und in der Nikolaikirche 100 Porträts ausstellen. Fast alle sind lebensgroß. „Ich brauche immer viel Platz“, sagt sie lachend. So hat sie 300 Quadratmeter Außenwand der Weinbrennerei im sächsischen Wilthen mit sorbischer Mythologie bemalt. Oder für die Europaschule im hessischen Gladenbach 20 Quadratmeter zum Thema „Europa“ gestaltet. Und nun 100 Porträts. Siebzig hat sie schon – querbeet aller sozialen Schichten. Regine Hildebrandt malte sie fast bis zu deren letzten Tag. „Jeder Tag war eine letzte Lebensminute und für mich ein Geschenk“, erinnert sie sich, „oft habe ich danach allein geweint.“

Markus Wolf wird sie sicher nicht zum Weinen bringen. Er kommt nächste Woche in die Glogauer – die Ehepaare Hassemer und Rohloff-Momin waren schon dort. Schröders noch nicht. Das könnte sich heute ändern. Da speist Antoinette bei Gerhard Schröder zu Abend – der Bundeskanzler hat sie überraschend mit sechs Künstlern eingeladen.

Beste Gelegenheit für die Malerin, über ihr Projekt zu sprechen, aber auch über die Nöte, es quasi ohne Auftrag und Sponsoren - also ohne Geld – zu vollenden. Wenn nicht ihr Mann wäre, hätte sie ihr anspruchsvolles Vorhaben schon aufgeben müssen. „Ein ästhetisches Fest“ soll die Ausstellung werden – bis zum winzigsten Faltenwurf.

Laut Familientradition sollte sie eigentlich Musikerin werden – schon mit sechs hatte Antoinette Klavier- und Cellounterricht. Ihr Vater Arnim Michel war in den 60er Jahren ein bekannter Pianist und unterrichtete an der Leipziger Musikhochschule. Als er erst 34-jährig starb, war das für die halbwüchsige Tochter ein Schock – nie mehr hat sie seither musiziert. Dafür um so mehr gemalt. Auch gelernt – Schriftsetzerin. Studiert hat sie 1975 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, ab 1979 dann an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin. Dazwischen bekam sie mit 19 ihren Sohn Moritz und brachte sich als Model, Kellnerin und auch schon mal als Nachtwächterin durch. 1984 machte sie in Weißensee ihr Diplom und kaufte sich in der Uckermark von einer kleinen Erbschaft eine Wassermühle. Die wurde als Künstlertreff bis nach Australien bekannt – in der DDR auch bei der Stasi. Antoinettes Insel der Seligen geriet nicht nur finanziell ins Wanken. Fast schon zum DDR-Ende verkaufte sie die 3000 Hektar für 20 000 Mark und zog 1988 nach Dresden. „Heute könnte ich damit Millionärin werden“, sagt sie. Seit zwei Jahren lebt sie mit ihrem Mann und Kollegen wieder in Berlin – in ihrer alten Studentenwohnung in Mitte. Dass sie durch Johannes Heisig ein Mitglied des berühmten Maler-Clans wurde, möchte sie dabei am liebsten immer verschweigen. Man soll nur die Malerin Antoinette sehen und nicht die „malende Schwiegertochter Bernhard Heisigs“. Dass dieser Antoinettes Porträts längst seine kollegiale Hochachtung aussprach, macht sie aber trotzdem stolz. In Berlin weiß man noch nicht viel von ihr. Aber: „Das wird sich bald ändern.“ Selbstbewusst ist sie.

Heidemarie Mazuhn

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