zum Hauptinhalt
Suka

© Barbara Volkmer

Gesundheitswesen: Scham und Vorurteil

Er kam vor Jahren, um zu bleiben. Sein Vater kam vor Monaten zu Besuch – und brach zusammen. Diagnose: Krebs, sofort operieren! Doch wer zahlt, wer hilft einem Ausländer in so einem Fall? Der Sohn ging auf die Suche. Und zur Angst um den Vater kam eine weitere.

Ein Mann schlurft die Kruckenbergstraße entlang. Es ist ein heißer Julinachmittag, wenige Menschen setzen sich der Sonne aus. Einer wienert sein Motorrad, ein anderer führt den lustlosen Hund aus. Von der nahen Pferdebahn Berlin-Mariendorf quäkt der Lautsprecher, da ist ein Rennen in der Endphase.

Der Mann hört es nicht, er sieht nicht nach links und nicht nach rechts. Schmal ist er, hat einen krummen Rücken und müde Augen. Er hat sich nicht rasiert, er hält inne und greift sich an die Seite.

Hinter den Rippen sticht es, auch die unterarmlange Narbe am Bauch schmerzt. Vor zwei Wochen haben sie ihn aufgemacht und ihm den Krebs herausgeschnitten. Sie haben das gut hingekriegt – war ja auch nichts anderes zu erwarten in diesem Land, in dem alles perfekt scheint. Er muss in zwei Monaten noch einmal operiert werden. „Alles wird wieder gut“, hat der nette Professor ihm gesagt und gelächelt.

Der Mann setzt sich wieder in Bewegung. Sherif Suka, so heißt er, erreicht die Siedlung, in der der Sohn und die Schwiegertochter wohnen. Er klingelt, drückt die Haustür auf und tapert durch den dusteren Gang. Am Ende wartet Naim, sein Sohn. „Komm rein, Papa“, sagt er in der Sprache des Vaters. Sherif betritt die Wohnung, der Sohn zieht ihm die Schuhe aus und führt ihn zur Terrasse. Ächzend lässt sich Sherif in die Hollywoodschaukel sinken. Er hat Schmerzen und keinen Mut. Er schämt sich für seine Schwäche. Er wollte doch niemandem Schande machen. Nicht in diesem fremden Land, das es bislang so gut mit seinem Sohn gemeint hat.

Naim Suka sieht liebevoll auf seinen Vater. „Ich war so stolz, ihm Deutschland zeigen zu können. Und dann ist das mit der Krankheit passiert. Jetzt bin ich traurig über das, was wir in den letzten Wochen erlebt haben. Das wollte ich nicht, dass meine Eltern diese Seite von Deutschland kennenlernen.“

Der Garten der Sukas ist winzig. Eine klitzekleine Rasenfläche zum Hinterhof - aber sei’s drum: „Wir mögen es hier“, sagt Naim. „Es ist hell, wir können am Tisch sitzen, und es ist ein bisschen grün. Das tut Papa gut.“

Der Vater ist nach einem kurzen Nickerchen aufgewacht. Sitzt in der Hollywoodschaukel und sieht den Besucher mit forschenden Augen an. Er versteht kein Deutsch, das stört ihn gerade sehr. Er würde gerne etwas sagen. Da gibt es einiges klarzustellen. Eine gute Zeit wollten er und seine Frau beim Sohn haben – und dann ist alles so anders gekommen. Sherif Suka würde die Geschichte so gerne zurechtrücken.

Er will nicht, dass die Leute schlecht über seinen Sohn denken.

Er will, dass die Menschen wissen, dass er nicht so einer ist, der trickst und gaunert.

Er möchte, dass man versteht, wie dumm alles gelaufen ist.

„Mein Vater schämt sich“ sagt Naim Suka. „Er hat zu Hause immer alles selbst geregelt. Nie war er krank, nie war er jemandem eine Last. Immer war er stark, er konnte einen 25-Kilo-Sack Mehl tragen und ihn dabei so vom Körper weg halten, dass kein Stäubchen an den Sonntagsanzug kam. Er hat für die Familie gesorgt, sich um die Freunde gekümmert. Zu Hause lieben alle meinen Papa. Aber jetzt kommt er sich vor, als hätte er ein Unrecht begangen. Dabei ist er bloß krank geworden.“

Dann schweigt Naim erst mal. Niemand soll glauben, er sei undankbar. Als der 36-Jährige wieder redet, ist er vorsichtig bei dem, was er sagt: „Deutschland ist gut zu mir gewesen. Ich habe es angenommen wie eine zweite Heimat. Aber in den letzten Wochen habe ich ein kaltes Land erlebt. Ich habe Menschen getroffen, die mir das Gefühl gegeben haben, dass man uns hier nicht will. Vielleicht ist das so schlimm gewesen, weil alle Angst vor der Zukunft haben, ich weiß es nicht. Aber es tut weh, und es ist nicht gerecht gegen meinen Papa.“

Friedlich ist es auf der Terrasse der Sukas. Naims Mutter Tahere schält eine Banane für ihren Mann, auf dem Hof ist das Lachen spielender Kinder zu hören. Shpresa, Naims Frau, hat sich mit dem Baby auf die Wohnzimmercouch zurückgezogen.

Drei Monate ist Jolina nun alt, ein stilles freundliches Kind. Sie lächelt viel, wenn auch etwas verhalten, sie schreit kaum, sie schläft nachts durch. „Ein Sonnenschein“, sagt die junge Mutter. „Eine Gottesgabe“, ergänzt Naim. „Nie hat sie mich im Schlaf gestört. Das ist gut so. Da bin ich ausgeschlafen, wenn morgens um halb fünf der Wecker klingelt.“

Die Großeltern sollten diesen Wonneproppen erleben dürfen. Naim kratzte die 720 Euro für den Flug von Pristina nach Berlin zusammen, er schloss für zwei Monate eine Reisekrankenversicherung beim ADAC ab.

Die Eltern kamen und waren ganz vernarrt ins kleine Glück. Sie sahen, dass der Sohn es weit gebracht hatte in der Fremde. Eine schmucke, schick und neu eingerichtete Wohnung in Alt-Mariendorf haben er und seine Frau. Mit einer schönen Küche und hellen Möbeln. Mit einem Computer und einem großen Fernsehgerät. Mit schönen Fotos von der prächtigen Hochzeit im Kosovo. Naim mag seine Arbeit beim Maschinenbauer SKF, Shpresa ist eine wunderbare Mutter. Und dann diese beeindruckende Stadt.

Naim Suka zeigte Mutter und Vater stolz, was Berlin zu bieten hat. Das KaDeWe, den Ku’damm, den Alex, Tiergarten und Brandenburger Tor. Die Eltern staunten und waren stolz: Das alles gehörte auch ihrem Sohn ein wenig.

Am 24. Mai flanierten sie durch den Treptower Park. Sherif alberte noch für den fotografierenden Sohn, dann fuhr man zurück nach Alt-Mariendorf – und plötzlich ging es Sherif nicht mehr gut. Naim rief den Arzt, der Vater kam ins Wenckebach-Klinikum. Dort behielten sie ihn, untersuchten ihn gründlich.

Nach vier Tagen eröffnete der Arzt Naim, dass Sherif Suka, 63, schwer erkrankt sei: bösartiger Tumor im Enddarm. Operation unerlässlich. Heimflug in diesem Zustand unmöglich. In der Charité gebe es Experten für solche Fälle; dorthin mögen sich die Sukas wenden. Naim bekam noch eine Armbeuge voll Medikamente für die Zeit vor der OP auf den Weg, dann fuhr er mit dem Vater zurück in die Kruckenbergstraße.

Es ging Sherif schlecht. Doch ein wenig musste er sich noch gedulden. Die Warteliste für Operationen war lang. „Es waren schreckliche Tage“, sagt Naim. „Wir hatten so viel Angst. Der Arzt hatte gesagt, dass der Tumor den Tod in sich hatte. Und ich merkte, dass die Versicherung ablief. Ich wusste, dass ich die Geschichte regeln musste.“

Naim Suka fuhr mit Bus und U-Bahn zum ADAC an der Bundesallee. Dort fragte er sich bis ins zuständige Büro durch. Schilderte dem Sachbearbeiter den Fall. Der warf einen Blick in die Unterlagen und meinte dann, er könne nicht helfen. „Wir können nur die Kosten bis zur Diagnose tragen. Für den Rest kommt der ADAC nicht auf.“

Eine Verlängerung der Police sei unter diesen Umständen auch nicht möglich. Ein schriftlicher Bescheid werde nachgereicht. Damit sei unterm Aktenzeichen „ps-2-V190-ctam“ der Fall für den Versicherer erledigt. Wobei, auch das wurde Naim Suka noch einmal vor Augen geführt, Herr Suka doch generös behandelt worden sei. Was hatte man nicht alles bezahlt: das Krankenhaus, die Untersuchungen mit Duodenoskopien, Bioskopien, Koloskopien, Tomografien. Und schließlich habe man mit den modernsten Methoden ja auch herausgefunden, woran es hapere: „Ulzeriertes, mäßig differenziertes Adenokarzinom 2,5 cm ab Linea Dentata (uT3 N+), Tumorlängsausdehnung 2-3 cm.“

Eine fremde Sprache für Naim, der aber die Bedeutung schnell lernte: Würde der Vater nicht bald operiert, würde er sterben.

Gottseidank, sagt der gelernte Maschinenbauer, habe man zu dieser Zeit bei SKF Kurzarbeit gehabt. „So konnte ich auf all diese Ämter gehen.“

Er stöberte im Internet, er machte sich so gut es eben ging kundig, wo eventuell Unterstützung zu erwarten sei. „Ich war in vielen Büros. Manchmal war Papa dabei, wenn er sich gut genug fühlte.“

Nach der Abfuhr beim ADAC gingen sie zum Bezirksamt in Tempelhof. „Die Leute dort waren sehr nett. Aber wir mussten lange warten, bis wir dran waren, und dann hat der Beamte gesagt, wir seien völlig falsch, vielleicht sollten wir es bei der Krebshilfe versuchen.“

Berliner Krebsgesellschaft, Robert-Koch-Platz 7, in Mitte. Selbstdarstellung im Internet: „Die Berliner Krebsgesellschaft bietet Krebskranken und ihren Angehörigen einen individuellen und kostenlosen Beratungs- und Informationsdienst an, lindert mit ihrem Härtefonds akute finanzielle Notsituationen von Berliner Krebskranken.“ Für Naim und seinen Vater gab es mitfühlende Worte, „aber wir können leider nichts für Sie tun. Vielleicht gehen Sie erst mal zum …“

… Sozialamt Tempelhof-Schöneberg, Tempelhofer Damm. Mieterberatung, Rentenberatung, Rechtsberatung. Was hat hier jemand zu suchen, der Tausende von Euro für die Operation des todkranken Vaters aufbringen muss? Nichts, sagte ein netter Mensch hinter dem Schalter und verwies auf die …

… Bürgerberatung, gleiche Adresse. Einschlägiges aus dem Internet: „Das Angebot an gesetzlichen Krankenkassen ist mittlerweile so vielseitig, dass für den einen oder anderen ein Krankenkassenwechsel neben finanziellen Vorteilen auch Vorteile in der Leistungspalette bringen kann. Hier können Sie vergleichen, ob sich ein Krankenkassenwechsel für sie finanziell auszahlt.“ Sorry, hieß es freilich, als sich Naim Suka kundig machen wollte. „Sie haben mir geraten, ich soll meinen Papa in Pristina oder so operieren lassen. Aber die Ärzte meinten, dass das nicht gut gehen würde.“ Also ist er weiter getingelt. Zum …

… Deutschen Roten Kreuz, Bachestraße 11, Friedenau. Da konnte Naim im Netz lesen: „Tumorerkrankungen, insbesondere aber die Zeit danach, belasten Betroffene und Angehörige gleichermaßen. (…) Wir möchten Ihnen die Gelegenheit geben, sich einmal gründlich aussprechen zu können.“ Er sprach sich aus und hörte: „Wir sind nur für Familien da.“ Also, nächster Versuch bei den …

… Maltesern, Roonstraße 20, Lichterfelde. Hier musste doch etwas zu machen sein, schließlich hieß es: „Bei Großschadensereignissen, Unfällen oder plötzlichen Erkrankungen im Urlaub – die Malteser sind immer für Sie da.“ Aber in diesem Fall leider nicht. „Vielleicht …“

Immer wieder hieß es: vielleicht.

Immer wieder kam heraus: nichts.

Naim hat irgendwann aufgegeben. Seine Bank erweiterte seinen Kreditrahmen nicht, da verschuldete er sich bei einer anderen. Da er kurz vor dem Besuch der Eltern noch ein neues Schlafzimmer angeschafft hatte, musste er nun als Selbstzahler für die OP des Vaters aufkommen. Alles in allem hat ihn bislang der Krebs knapp 25 000 Euro gekostet.

Wie er das in den nächsten Jahren schultern wird? Er weiß es nicht, die Schulden scheinen ihn zu erdrücken. Er ist wieder am Punkt null – da, wo er war, als er vor zwölf Jahren auf der Flucht vor dem Krieg im Kosovo in Frankfurt am Main landete und sich in der Gastronomie im Hessischen durchschlug. Damals hatte er auch nichts, nicht mal Deutsch konnte er. Jetzt dieser Schuldenberg! Er könnte verzweifeln, doch Naim Suka lächelt. „Ich bin glücklich“, sagt er. „Die Ärzte sagen, der Krebs ist weg, und mein Vater wird wieder ganz gesund.“

Glatt rasiert, wie er ist, sieht Sherif Suka zehn Jahre jünger aus als noch im Juli. Sein Sohn packt die Sachen für den Flug nach Pristina. Zehn Uhr ab Schönefeld, zwei Stunden später landet die Maschine in der Heimat. Sherif Suka freut sich. Das wird ein schöner Tag für ihn. Er wird sich nach Hause chauffieren lassen. Da werden schon Freunde warten, und man wird sich eine Menge zu erzählen haben. Über die Ernte und das Wetter und den Tratsch im Dorf. Und über die Gesundheit.

Und sie werden ihn fragen, wie es ist in diesem reichen Land. Dann wird er sagen: Sie haben dort alles, aber sie wissen es nicht. Die Ärzte sind Zauberer, und in den Straßen gibt es keine Löcher.

Detlef Vetten

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false