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Berlin: Gewalt gegen alte Menschen - Die Diakonie will Betroffenen helfen

Wenn in dem kleinen Büro am Marheinekeplatz das Telefon klingelt, tut Hilfe Not: Ein verzweifelter alter Herr meint, er werde - bettlägrig, wie er ist - um sein Geld betrogen. Eine Frau ruft an, die bei ihrer Mutter im Pflegeheim zum wiederholten Male blaue Flecken festgestellt hat.

Wenn in dem kleinen Büro am Marheinekeplatz das Telefon klingelt, tut Hilfe Not: Ein verzweifelter alter Herr meint, er werde - bettlägrig, wie er ist - um sein Geld betrogen. Eine Frau ruft an, die bei ihrer Mutter im Pflegeheim zum wiederholten Male blaue Flecken festgestellt hat. Eine weitere erzählt, sie werde vom pflegenden Ehemann geschlagen. Wieder andere sorgen sich um das Wohl ihrer bettlägrigen Nachbarn, weil sie plötzlich Schreie gehört haben.

Nach Kindesmissbrauch und Gewalt gegen Frauen ist Gewalt gegen Ältere das dritte Tabuthema innerfamiliärer Verhältnisse. Das Krisentelefon "Pflege in Not" in den Räumen der Diakonie-Sozialstation Südstern will Abhilfe schaffen. Nach Vorbild einer Bonner Initiative wird Pflegenden wie Gepflegten zunächst anonym die Möglichkeit gegeben, mit jemandem zu sprechen. In Bonn hat die Erfahrung seit 1997 gezeigt, dass die Einrichtung eines derartigen Telefons überfällig war. Während der ersten acht Monate gingen über 300 Anrufe ein. Zu zwei Dritteln rufen Opfer von Misshandlungen an. 20 Prozent klagen über Beschimpfungen, 16 Prozent über finanzielle Ausbeutung, elf Prozent über Gewaltandrohung, neun Prozent über Körperverletzung. In fast der Hälfte der Fälle war der Täter ein Familienmitglied.

Zuverlässige Daten darüber, wieviele ältere Menschen Opfer von Gewalt werden, liegen nicht vor. Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen von 1995 geht aber davon aus, dass 3,4 Prozent der 60 bis 75jährigen in Deutschland Opfer physischer Gewalt werden - das wären 600 000 Menschen. Nur 7,8 Prozent der Opfer zeigen gewalttätige Angehörige an.

Gabriele Tammen-Parr, Leiterin des Berliner Krisentelefons, arbeitet mit pflegenden Angehörigen in Selbsthilfegruppen. Sie kennt die Klientel - und auch deren Überlastung: "Sie pflegen im Schnitt 20 Jahre lang", sagt Tammen-Parr, "und das sechs bis neun Stunden am Tag." Die Unterstützung durch die Familie finde nach anfänglichen Bekundungen oft schnell ein Ende. Die Angehörigen von verwirrten Pflegefällen, erzählt Tammen-Parr, seien oft 24 Stunden am Tag ans Haus gefesselt. "Wenn der Ehemann zum Weglaufen neigt, müssen sie sich sogar beim Duschen mit ihm einschließen."

Oft, so Tammen-Parr, habe auch die Anwendung körperlicher oder psychischer Gewalt etwas mit Überlastung zu tun. Andererseits setzten sich in der Pflege aber auch oft die gewalttätigen Elemente alter Zeiten fort - oder würden schlicht umgedreht. "Es gibt Fälle, wo pflegende Töchter jahrelang unter ihrem autoritären Vater gelitten haben oder Frauen unter fremdgehenden Ehemännern. Pflegeprobleme sind oft auch Beziehungsprobleme. In dieser extremen Situation kommt viel wieder hoch." Auch dass Tammen-Parr vor allem Frauen als Beispiele anführt, macht Sinn: Achtzig Prozent der häuslichen Pflege in Deutschland wird von Frauen verrichtet.

Überhaupt wird bei aller Skandalberichterstattung über Zustände in Altenheimen gern übersehen, dass der Aufenthalt dort immer noch die Ausnahme ist: Von etwa 1,2 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland lebt nur etwa jeder vierte im Heim. Alle anderen werden zu Hause gepflegt - wo sich unbemerkt von der Öffentlichkeit Dramen abspielen, an denen sich durch die Einführung der Pflegeversicherung kaum etwas geändert hat. Gewalt in Pflegesituationen äußert sich nicht nur körperlich: "Oft werden Patienten subtil misshandelt", erzählt Mechthild Niemann-Mirmehdi von der Demenz-Beratungsstelle im Universitätsklinikum Benjamin-Franklin. "Da wird der Becher an die Seite gestellt, an der der Patient seinen Arm nicht bewegen kann oder er wird einen Tag lang schlicht vergessen." Gewalt trete immer dann auf, wenn die Lage sich enorm zugespitzt hätte. In Gesprächen versucht Niemann-Mirmehdi mit ihren Besuchern, die oft kurz vor dem Zusammenbruch stehen, zu klären, welche Konflikte bereits vor der Krankheit die Beziehung belastet haben - aber auch, den Grad der Überlastung festzustellen. "Gerade Demenz-Patienten sind oft anstrengend", erzählt sie, "manche schlagen alles kurz und klein und haben es anschließend vergessen, andere stellen 80 Mal dieselbe Frage oder laufen dauernd weg." Dazu komme, dass verwirrte Menschen oft um sich schlagen.

Ingrid Fuhrmann, die seit 20 Jahren einen Angehörigen pflegt, war bereits vor zehn Jahren an einem Punkt, an dem sie zur Selbsthilfe griff und eine Gesprächsgruppe gründete. "Es kommt schon vor, dass jemand offen sagt, er hätte eines Tages fast zugeschlagen", erzählt Fuhrmann. Sie hält Selbsthilfegruppen für einen dringend notwendigen Weg, um mit der Belastung, die oft auch noch ungeheuer plötzlich kommt, fertig zu werden. "Wer pflegt, darf nicht allein gelassen werden". Doch selbst für den wöchentlichen Austausch mit anderen fehlt die Zeit: "Wenn jemand rund um die Uhr gepflegt werden muss, kann man selbst für zwei Stunden nicht aus dem Haus."Krisentelefon "Pflege in Not", Mo. bis Fr. 10 bis 12 Uhr, Tel. 69598989; Beratungsstelle der Abteilung für Gerontopsychiatrie am Uniklinikum Benjamin Franklin, Tel. 84458317; Alzheimer-Angehörigen-Initiative, Tel. 44338741; Alzheimer-Gesellschaft, Tel. 89094357.

Jeannette Goddar

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