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Gewaltopfer auf dem U-Bahnhof Kurfürstendamm.

© Kai-Uwe Heinrich

Gewaltopfer: Das Herzklopfen bleibt

Er wollte helfen – und wurde selbst zum Opfer. Eine Gruppe Schläger fiel über ihn her. Mit welchen Gefühlen ein 28-Jähriger heute durch den U-Bahnhof Kurfürstendamm geht.

Manche Eindrücke haben sich ihm ins Hirn eingebrannt. Zum Beispiel, wie die Turnschuhe aussahen, die ihn ins Gesicht trafen, als er bereits am Boden lag: Schwarz waren sie und ziemlich ausgelatscht. Oder das Geräusch, als der Fremde seinen Teleskopschlagstock ausfuhr, kurz bevor er losprügelte. Klack-klack-klack.

Wie Andy W. damals die Flucht gelang, vom Bahnsteig des U-Bahnhofs Kurfürstendamm die Treppen rauf zur Straße, das weiß er nicht genau. Vier Monate ist es her, und heute, als er zum ersten Mal wieder aus der U9 auf den Bahnsteig tritt, fühlt er sich ein „bisschen schwitzig“. Das Herzklopfen ist auch wieder da. Dort drüben neben der Bank, dort sei es passiert. Hingehen möchte er nicht. Erstmal aus der Ferne gucken.

Andy W., 28, verfolgt die Nachrichten in diesen Tagen gründlich. Das Opfer in der Friedrichstraße, das in Lichtenberg, zuletzt das in Wedding am Donnerstag. Allesamt krankenhausreif geschlagen, bloß weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Andy W. hat es erwischt, weil er, so muss man es wohl leider sagen, das Falsche tat: Er wollte einer Frau helfen.

Die Presse hat über seinen Fall nicht berichtet. Weil er letztlich Glück hatte, sagt Andy. Mit „Glück“ meint er: bloß eine schwere Gehirnerschütterung, bloß Wunden an Kopf und Bein. Mehrere Dutzend Seiten umfasst die Polizeiakte inzwischen, ermittelt wird wegen gefährlicher Körperverletzung. Alle Zeugen wurden befragt, Tatverdächtige gibt es keine. Die Überwachungskameras lieferten keine brauchbaren Bilder.

Es war im Januar, Sonntag früh, Andy W. kam mit seinem Cousin aus einem nahegelegenen Club, sie hatten getanzt, auch getrunken. Um vier Uhr warteten sie unten am Bahnsteig Richtung Osloer Straße. Dann sah Andy den jungen Mann: 20 vielleicht, kleiner als 1,80 Meter, schlank. Vermutlich arabischer Herkunft. Und da war die fremde Frau, die auf einer Bank saß. Der Mann ging hin und schimpfte sie „Schlampe“ und „Hure“, dann schlug er ihr von hinten so heftig gegen den Kopf, dass die Frau nach vorne geschleudert wurde. „Lass das“, hat Andy W. gesagt. „Was willst du dagegen machen?“, bekam er zur Antwort. Zum Überlegen blieb keine Zeit, er hielt schützend seinen Arm vor die Frau, dann wurde gerangelt, bis Andy ein Schlag auf den Hinterkopf traf. Er hatte nicht bemerkt, dass der Mann zwei Freunde dabei hatte. Andy taumelte zu Boden.

Sein Cousin wurde auf die Bahngleise geschubst, er hatte Glück und konnte entkommen. Wie lange die Täter auf Andy W. eintraten, gegen Kopf, Bauch und Beine, weiß er nicht. 30 Sekunden vielleicht. Er lag auf der Seite, zog instinktiv die Knie an, hielt sich die Hände vors Gesicht. „Wie in der Babystellung“, sagt Andy.

Geblieben sind die Kopfschmerzen und die Narbe am rechten Schienenbein. Dazu die 16 Zeichen seiner Vorgangsnummer. Er glaubt nicht, dass die Täter noch gefasst werden. Einen würde er womöglich wiedererkennen, die anderen nicht. Fragt man ihn heute auf dem Bahnsteig, ob er nicht wütend sei, zumindest ein bisschen, muss Andy W. erst überlegen, dann sagt er: „Eigentlich ist da nur Leere.“

Abends ausgegangen ist er seit dem Vorfall nicht. Und in der U-Bahn steigt manchmal Angst in ihm auf. Zum Beispiel, wenn arabische Jugendliche im Abteil sitzen. Das ist ihm schrecklich peinlich, denn so will er nicht fühlen, „so bin ich nicht“. Aber seit vier Monaten steckt es irgendwie in ihm drin. Seine Schwestern raten ihm, einen Psychologen aufzusuchen. Er hat sich noch nicht durchgerungen. 

Ein paar Mal hat er darüber gegrübelt, was die Täter wohl dachten bei ihrer Prügelorgie. Eine schlüssige Antwort ist ihm nicht eingefallen, am ehesten noch diese: „Sie hatten wohl Lust, anderen Menschen weh zu tun.“ Es war seine erste Gewalterfahrung. Besonders ein Blick sei ihm im Gedächtnis geblieben. Er meint nicht den der Täter, sondern den der bedrohten Frau. Die habe nämlich keine Hilfe geholt, stattdessen starr neben der Bank gestanden und mit regungsloser Miene zugeschaut, wie er verprügelt wurde. Vielleicht war sie paralysiert vor Angst, sagt er. Fragen kann er nicht, er hat sie seit dem Vorfall nicht gesehen. Sie hat sich nicht als Zeugin gemeldet.

Geholfen hat ihm ein Mann oben auf der Straße. Andere Passanten ignorierten ihn einfach, sie wollten nicht mit reingezogen werden, glaubt Andy W. Etwa der Taxifahrer, der oben am Straßenrand in seinem Wagen auf Kundschaft wartete. Und der, als Andy W. blutüberströmt an die Scheibe klopfte, seinen Motor anließ und schnell wegfuhr. Ob er selbst nochmal helfen würde, wenn er wieder in so eine Situation geriete? „Ich möchte auf jeden Fall.“ Drauf wetten würde er nicht.

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