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Berlin: Grabungsarbeiten in Mitte: Bevor das "Ahornblatt" abgerissen wird, forschen Archäologen nach verborgenen Zeugnissen des Mittelalters und der Frühgeschichte

"Wo ist der große Stein?", fragt Claudia Maria Melisch den Bauarbeiter, der lässig an seinem Bagger lehnt.

"Wo ist der große Stein?", fragt Claudia Maria Melisch den Bauarbeiter, der lässig an seinem Bagger lehnt. Der deutet auf einen Sandhaufen, auf dem tatsächlich ein großer, mit schwarzer Erde verkrusteter Stein liegt. Die Expertin untersucht den Koloss, wendet sich aber schnell wieder ab. Beton, 20. Jahrhundert, uninteressant.

Die junge Archäologin leitet mitten in Mitte die Grabungsarbeiten auf einem Terrain, das wie kaum ein anderes mit Berliner Stadtgeschichte gesättigt ist. Hier, an der heutigen Ecke Fischerinsel / Gertraudenstraße haben an den Ufern der Spree die ersten Bewohner der Stadt Cölln gehaust. Aus ihr und der Stadt Berlin, die sich am gegenüberliegenden Flussrand ausbreitete, ging in Jahrhunderten das heutige Berlin hervor. Und wieder ändert sich hier das Aussehen des Geländes, denn noch in diesem Jahr wird das Unternehmen OMG für 110 Millionen Mark einen Komplex aus Hotel, Wohnungen und Geschäften bauen. Weichen müssen für ihn die wegen seines gezackten Dachs "Ahornblatt" genannte Gaststätte - gegen deren Abriss hatten Anwohner lange opponiert - und ein Supermarkt. Bevor die Abrissbagger kommen und eine gewaltige Baugrube ausheben, kann Claudia Maria Melisch mit ihrem Team aus Archäologen und Arbeitern auf dem im Fachjargon "Verdachtsfläche" genannten Areal sechs Monate lang die Überreste der Vergangenheit sichern. Die Kosten dafür trägt der Investor.

Derzeit arbeiten die Forscher in den freigelegten Kellern eines seit langem verschwundenen Hauses, das wahrscheinlich aus dem 19. Jahrhundert stammt. Später werden die Kellerböden durchstoßen und die Grabungen bis zum Grundwasser fortgesetzt. "Wir wissen nicht so genau, wann die Geschichte hier begonnen hat", erklärt Melisch. Wahrscheinlich haben hier schon Slawen in der Spree gefischt, doch dafür fehlen bislang die Beweise. Die ersten Siedlungsspuren in Mitte stammen aus dem Frühmittelalter, etwa aus Grabungen in der Breiten Straße, wo Überreste eines Hauses aus dem 12. Jahrhundert freigelegt wurden. Erkenntnisse über die mittelalterliche Siedlungsstruktur, deren sichtbaren Überreste Ende der sechziger Jahre beseitigt wurden, erhofft sich auch Archäologin Claudia Maria Melisch. Mit romantischer Schatzsucherei hat die Arbeit des Grabungsteams wenig zu tun, es geht vielmehr um den profanen Alltag unserer Altvorderen. "Wo stand der Zaun, wo die Latrine?", beschreibt Melisch eines der Erkenntnisziele. Nicht spektakuläre Funde, sondern Erkenntnisse über die Siedlungsgeschichte stünden im Vordergrund. Relativ unscheinbar sind denn auch die Artefakte, die die Forscher bisher ausgebuddelt haben. Ein Topffragment ist darunter und eine Porzellan-Scherbe.

Am Ende ihrer Arbeit wird das Forscherteam jedoch dem Landesamt für Denkmalpflege eine mit wissentschaftlicher Akribie erstellte Studie vorlegen, in der jede auffällige Erdverfärbung, jeder Holzpflock, jede Tonscherbe, kurz jeder Hinweis auf Menschen verzeichnet sein wird. Dann können die Architekten kommen und für die Zukunft bauen.

Klaus Wieking

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