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Berlin: Graue Haare, knallrote Jacken

Von der Kastanienallee zur Casting-Allee: Unsere zielsichere Serie führt uns diesmal an die Grenze zwischen Mitte und Prenzlauer Berg

Von Malte Meinhardt

Braun und vertrocknet, gekrümmt und gekräuselt hängen die letzten traurigen Blätter an den Ästen. Schon im Sommer war scheinbar der Herbst eingekehrt. Die mazedonischen Miniermotten haben auch hier zugeschlagen und sich hungrig in das einst saftig-grüne Blattwerk gebohrt; die Kastanienallee, dessen kürzerer Teil noch in Mitte, dessen längerer bereits in Prenzlauer Berg liegt, macht ihrem n wahrlich keine Ehre mehr.

Am südlichen Ende der Allee ist der Pfeil eingeschlagen, dort, wo der Weinbergsweg beginnt und zum Rosenthaler Platz hin abfällt. Die unspektakuläre Kreuzung liegt weit ab vom oberen Teil der Kastanienallee mit „Prater“ und „Schwarzsauer“, da wo sich Café an Café reiht, wo es jung und bunt gemischt zugeht, wo Friseure sich „Vokuhila“ nennen und auch so aussehen müssen, um aufzufallen. Den Weinbergsweg runter, in Mitte, locken Clubs wie der „Pavillon am Weinbergsweg“ oder das „Bergstübl“ das junge Ausgehvolk an.

Aber hier? Eine Lücke im jungen Berlin – noch. An der Ecke steht das „Pflegewohnheim am Weinbergsweg“ der Inneren Mission. Unter der Fichte lächelt brav ein Gartenzwerg. Gegenüber, in der Fehrbelliner Straße, sieht man einen sanierten Neubau aus den fünfziger Jahren. Hinter kleinen Fenstern hängen geraffte Gardinen. Vorne rauscht die Tram vorbei; hinter dem Haus aber ist es so still, dass man die Amsel in den Büschen rascheln hört.

Ein Park mit Kinderspielplatz versteckt sich hier; keine Schönheit, aber eine grüne Oase allemal. Doch, ja, es lasse sich gut leben hier, sagt eine Frau mit grauer Dauerwelle und verschwindet mit ihrer Einkaufstasche um die Ecke. Auf der Straße steht ein Wagen der Volkssolidarität, und auf dem Verkehrsschild weist ein Pfeil aus DDR-Zeiten in Richtung „Pankow, Prenzlauer Berg“. Den alten Osten spürt man hier noch deutlich. Und bis vor kurzem war es ruhig.

Doch nun dringen die jungen Leute auch hierhin vor: von oben aus Prenzlauer Berg und von unten aus Mitte. Galerien eröffnen, junge Designer kommen. Alle finden es hier ziemlich „mäßig“. Till zum Beispiel: „Mir ist hier alles zu Porsche-Sonnenbrillenmäßig geworden“, beklagt er sich. Deshalb will der junge Ingenieur demnächst weg aus der Kastanienallee – in den Westen. Eilig hat man es auch hier. Till verschwindet schnell im Hauseingang.

Die Vermutung, dass „aus der Gegend mal was wird“, brachte die 25-jährige Carin Wolff vor einem guten Jahr dazu, sich mit ihrem Laden „PEGS“ selbstständig zu machen. Die blonde junge Frau mit dem locker sitzenden Strickpulli verkauft buntes Geschenkpapier, Windlichter aus Glas, Mobiles und Porzellangeschirr. Damals war es leicht, hier einen Laden zu bekommen. Jetzt kommen immer mehr Touristen, um den in Reiseführern als „Geheimtipp“ gepriesenen Kiez zu entdecken. Das Geschäft der gelernten Mode-Designerin läuft gut.

An der Ecke zur Zionskirchstraße befindet sich seit letztem Januar ein Café – ohne offiziellen Namen. „103“ nennen es die Leute im Kiez. Wirklich schick ist es, mit weißen Wänden und Lampen aus den siebziger Jahren. Im schlicht „Imbiss“ genannten Laden nebenan bedient ein runder Mann mit Hawaiihemd, Strohhut und Oberlippenbart, dazu erklingt indische Meditationsmusik. Gordon aus Kanada will „Fast-Food auf hohem Niveau“ bieten, eine Mischung aus asiatischer und europäischer Küche.

Draußen, unter Bambus-Wedeln, sitzt die 32-jährige Charlotte mit großen silbernen Ohrringen und schwarzem Haar bis in die Stirn. Sie trägt eine knallrote enge Strickjacke; ihre grüne Plastiktasche hat sie neben sich abgestellt. „Extrem verändert“ habe sich die Kastanienallee, erzählt Charlotte, die selbst in der Pappelallee wohnt. „Manche sagen auch ,Casting-Allee’. Es ist jetzt sehr fashion-victim-mäßig.“

Zwischen grauhaarigen Rentnern fallen die Secondhand-Klamotten der jungen Kreativen umso deutlicher auf. Jeder scheint bemüht, kreativer und individueller gekleidet zu sein als der andere. Charlotte und ihre Freunde nennen dies spöttisch „Kinderfasching“, kommen aber trotzdem gerne her. „Wem es nicht gefällt, muss hier ja nicht langlaufen.“

Das „Playboy“-Magazin hat das Café „103“ in diesem Frühjahr übrigens als eine der besten Bars in Deutschland ausgezeichnet. Für das junge Ausgehvolk, so urteilt Charlotte, „wird die Lücke zwischen Mitte und dem oberen Ende der Kastanienallee jetzt geschlossen.“ Vielleicht sieht es hier auch schon sehr bald ziemlich „mitte-mäßig“ aus.

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