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© dpa

Heiner Geissler: ''Darf Sarrazin Arbeitslose folgenlos verhöhnen?''

Die Kritik an Thilo Sarrazins "Hartz-IV-Menu" reißt nicht ab. CDU-Politiker Heiner Geissler sieht den Finanzsenator als Provokateur, der verantwortlich ist, falls Massenarmut in Wut und Aggression umschlägt.

Bei Finanzministern und Senatoren sind naturgemäß die Zeitgenossen am meisten geachtet, die viel arbeiten und das große Geld verdienen. Nicht minder werden diejenigen respektiert, die nichts arbeiten, aber so viel Kapital angehäuft haben, dass sie von den Erträgen ordentlich Steuern bezahlen können. Wenig Achtung genießen die Landsleute, die auch nicht arbeiten, aber kein Kapital und keinen Job besitzen und deshalb für den Staat zur fiskalischen Belastung und zum reinen Kostenfaktor, den es zu minimieren gilt, geworden sind.

Das herausragendste Exemplar dieser „nichtsnutzigen Gattung“ ist in Deutschland der Hartz-IV-Empfänger. Der Finanzsenator der Berliner Koalition – von den Enkeln August Bebels und Karl Liebknechts getragen –, der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin, hat dementsprechend die Konsequenz gezogen und diesen miserablen Stadtbürgern einen Speiseplan erstellt, der zeigen soll, wie man als Arbeitsloser von 4,25 Euro am Tag leben kann – das ist der Regelsatz für die Ernährung. Sogar „schon für 3,76 Euro am Tag gibt es drei volle Mahlzeiten“, meint der Senator, der 10 000 Euro Monatsgehalt bezieht. Davon kann er jeden Tag mühelos beim Italiener essen und abends einen halben Liter Rotwein trinken. Das ist auch nicht zu beanstanden. Aber seine Tagesrationen für Arbeitslose sind eine beispiellose Frechheit. Die Sarrazin’sche Tagesportion Nr. 1 (Frühstück: 2 Brötchen, 25 g Marmelade, 20 g Butter, 1 Scheibe Käse, 1 Apfel; Mittag: 100 g Hack, 125 g Spaghetti, 200 g Tomatensoße; Abendessen: 130 g Leberkäse, 200 g Kartoffelsalat) hat, großzügig berechnet nach dem klassischen GU-Klevers-Kalorienkompass, 1710 Kalorien, 1357 kcal hat das von Sarrazin empfohlene Tagesmenü Nr. 2 und 1594 kcal die Nr. 3.

Mit dieser vom Finanzsenator als ausreichend befundenen Kalorienmenge von durchschnittlich 1550 kcal täglich leiden selbst die untätigsten Arbeitslosen nach vier Wochen an Unterernährung. Nach den Referenzwerten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung beträgt die notwendige Energiezufuhr für Männer zwischen 25 und 50 Jahren bei ausschließlich sitzender Tätigkeit schon 2400 kcal; läuft der betreffende Mensch noch herum, z. B. zur Jobagentur, braucht er leicht über 3000 kcal. Im Übrigen verschweigt der Senator souverän, dass Kinder nur für 2,28 Euro etwas zum Essen bekommen dürfen. Das Deutsche Forschungsinstitut für Kinderernährung hat aber ausgerechnet, dass für einen Jugendlichen 4,70 Euro das Minimum sind. Die Fehler, Irreführungen und defizitären Argumente des Senators schreien zum Himmel und werfen ein schlechtes Licht auf die Berliner Finanzverwaltung. Man darf auch fragen, ob ein Berliner Regierungsmitglied mit „Geiz ist geil“-Parolen arme Leute folgenlos verhöhnen darf. Nach Angaben des Deutschen Landkreistages sind 7,4 Millionen Menschen von Hartz IV betroffen. Wenn Massenarmut in Wut und Aggression umschlägt, tragen auch politische Provokateure wie Sarrazin dafür die Verantwortung.

Der Autor ist CDU-Politiker und war von 1982 bis 1985 Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.

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