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Berlin: Heinrich Richter (Geb. 1920)

Er machte alles mit links. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig.

Gerne gab er den Gastgeber bei gutem Wein und gutem Essen – seine Frau hatte gekocht. Mit seinem einnehmenden Wesen schloss er schnell Freundschaften, mit seinem Charme und einem Handkuss alter Schule zog er Frauen in seinen Bann. Auch nach vier, fünf Flaschen Wein konnte er kunstgeschichtliche Referate halten, ohne peinlich zu werden.

Aber wehe, er spielte nicht die erste Geige. Wehe, jemand störte ein Essen oder redete über so etwas Alltägliches wie Kinder. Da konnte er sich ungemein aufregen und auch sehr verletzend sein.

Heinrich Richter war ein begnadeter Kunstmaler und Zeichner. Ob Gebrauchsgrafiken wie die Tabakblätter der Zigarettenmarke „Ernte 23“, Lithografien von zerbrechlich wirkenden Gestalten, Ölbilder, Aquarelle oder Buchillustrationen, Heinrich Richter machte alles mit links. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig.

Geboren als Henryk Rychter in Polen, 200 Kilometer westlich von Warschau, war er ein sogenannter „Volksdeutscher“. Kaum hatten seine Eltern die polnischen Namen eindeutschen lassen, wurde er zur Wehrmacht eingezogen und verlor an der Front seinen rechten Arm. Gesprochen hat er nicht darüber. Der fehlende Arm war weder ein Thema noch ein Tabu.

Er hatte an der Staatlichen Meisterschule in Posen Innenarchitektur und Gebrauchsgrafik studiert, und mit der linken Hand war er so geschickt, dass er seine Zigaretten selbst drehen konnte.

In den letzten Kriegstagen floh Richter nach Berlin. 1948 wurde er an der Hochschule für Bildende Künste angenommen, mit einem französischen Staatsstipendium lebte er einige Monate in Paris, 1955 beendete er sein Studium mit dem Meisterschüler-Diplom. Seine Frau Mila, die aus Warschau stammte und eine Hauswirtschaftsschule besucht hatte, kümmerte sich um die beiden Söhne. Ihm war Familie nicht so wichtig: „Mein Leben ist das Leben eines Künstlers.“

Als er 1968 den Kunsthistoriker und ersten Direktor der Neuen Nationalgalerie, Werner Haftmann, kennenlernte, war das nicht nur der Beginn einer langen Freundschaft. Haftmann organisierte ihm eine umfassende Einzelausstellung in dem neuen Haus. Ein Jahr später bekam Richter den Großen Berliner Kunstpreis. Doch die Freude darüber war, wie so oft bei ihm, nicht ungetrübt. Zeit seines Lebens bedauerte er es sehr, dass die Nationalgalerie keines seiner Bilder kaufte.

Seinen künstlerischen Durchbruch verdankte Richter einem Skandal. In den sechziger Jahren stellte sein erster Galerist, der Aktionskünstler Ben Wargin, der ihm bis zuletzt ein enger Freund war, 40 Richterbilder aus: zerstückelte Frauen in Öl. Die Boulevardzeitungen überschlugen sich, die SPD verhinderte die Schließung der Ausstellung. Und für Richter ging es aufwärts. Bis 1970 war er immer wieder für längere Arbeitsaufenthalte Gast bei Theodor Ahrenberg, einem Schweizer Kunstsammler und Mäzen, mit dessen Familie sich eine enge Freundschaft entwickelte. Richter verkaufte viel und verdiente gut. Doch wieder trübte etwas seine Freude. Werke im Besitz von Privatsammlern betrachtete er als „verschüttet“. Seine Bilder sollten in Museen hängen.

Auch als der Luchterhand-Verlag ihn Grass’ „Blechtrommel“ illustrieren ließ, konnte er sich nicht uneingeschränkt freuen. 1968 erschien die Ausgabe mit seinen Bildern, scharf und provokant, derb-realistisch und fantastisch. Später illustrierte Grass seine Werke selbst – und Richter warf ihm vor, seinen Stil zu kopieren. Wirklich geredet haben die beiden Künstler darüber nicht. Überliefert ist eine Anekdote, in der Richter bei Grass zu Besuch war und ihn fragte, ob er etwas zu trinken für ihn habe. „Da ist der Wasserhahn“, soll Grass geantwortet haben.

Ein langjähriger Freund nannte Richter zu seinem 80. Geburtstag „einen Nomaden mit wechselnden Zeltplätzen“. Nach mehreren Aufenthalten in Paris, wo er in einem Atelier in Montparnasse lebte, ging Richter nach Burgund und später nach Cannes. Anfang der Neunziger kam er zurück nach Berlin.

Er hatte zwar immer wieder Ausstellungen, nicht nur in Deutschland. Doch die Zeit des Aufbruchs war längst vorbei. Er wartete jetzt vergebens auf Kunstliebhaber mit Herzblut und Geld, wie jenen Berliner Zahnarzt, der ihm lange Zeit monatlich 1000 Mark überwiesen und sich einmal im Jahr ein Bild abgeholt hatte. Echte Lithografien ließen sich schwerer verkaufen, seit Vervielfältigungen für zwanzig Euro im Internet zu haben waren. Richter hoffte immer, dass noch etwas kommt. Als 2001 das Kulturzentrum eines Frauenvereins in München eine Ausstellung „Hommage an die Frauen“ mit Werken von ihm organisierte, freute er sich sehr.

Letztes Weihnachten hatte er einen Herzinfarkt und kam ins Krankenhaus. Eine Operation wollte er nicht. Er wollte zu Hause an Illustrationen zu Dantes „Göttlicher Komödie“ arbeiten. Am 8. Juni starb er.

An der großen Brandmauer am S-Bahnhof Savignyplatz, nahe der Uhlandstraße, wo er zuletzt gelebt hat, kann man eines seiner Bilder sehen. Sein Freund Ben Wargin hat dort die „Weltbaumgalerie“ installiert, mit Reproduktionen von Bildern nicht ganz unbedeutender Künstler: Joseph Beuys, Frida Kahlo, Horst Janssen. Auch Günter Grass ist dabei. Und Heinrich Richter. Jeder kann sein Bild dort sehen. Das ist es, was er immer wollte. Barbara Bollwahn

Barbara Bollwahn

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