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Berlin: Heinz Hieronimus (Geb. 1952)

„Haben wir wenigstens Strom gespart.“

Mit der Moral gehe es bergab, hört und liest man allerorten. An einem Tiefpunkt sei sie angelangt, die Moral, die öffentliche. Was über die private nichts aussagt. Anzeichen unter den Menschen lassen hoffen. Heinz Hieronimus gehören zwei Apotheken und drei Reformhäuser. Die Apotheken laufen gut, die Reformhäuser nicht. Eines muss geschlossen werden. Die Angestellten sind ahnungslos. Es ist Oktober, auf das schmutzige Laub nieselt unaufhörlich fader grauer Regen, Kerzen in den Wohnungen werden angezündet. „Nein“, sagt Heinz Hieronimus, „wir warten. Sollten wir schließen, dann im Januar, jetzt denken die Leute schon an Weihnachten.“

Das Reformhaus hat keine schwarzen Zahlen mehr geschrieben, seine Angestellten konnte Heinz Hieronimus letztendlich nicht vor der Arbeitslosigkeit schützen. Aber seine Sorge, seine Anteilnahme, die zeigt er, jederzeit, selbstverständlich. Wenn ein Mitarbeiter kündigt, aus welchem Grund auch immer, nach einem Jahr wiederkommt, seinen Arbeitsplatz zurück will, stellt Heinz Hieronimus ihn erneut ein, ob es wirtschaftlich sinnvoll ist oder nicht. Seine zweite Apotheke, am Steubenplatz, erwirbt er, weil sein Freund, der bisherige Besitzer stirbt und die Familie Hilfe braucht.

Die erste Apotheke, die Galenus Apotheke, direkt am Kurfürstendamm in einem Ärztehaus, übernimmt er nach dem Studium von seinen Eltern, verkauft tagein, tagaus Kopfschmerztabletten, Hustensaft, Blutdruckmittel, berät, vor allem ältere Menschen, die benachbarten Ärzte wollen ausdrücklich von ihm, dem Chef, bedient werden. Fortwährend fällt ihm etwas Neues ein. „Fahrräder sollte man anschaffen“, schlägt er an einem Freitag vor „so wie bei der Bahn, die Leute leihen die Räder nach einem Besuch bei uns aus.“

Weil es sich um Fahrräder mit Korb handeln soll, gibt es Bedenken: „Die sehen aus wie Lieferräder. Man könnte meinen, wir können uns für Kurierwege kein Auto leisten“, sagen Angestellte. „Und wer sammelt die Dinger hinterher ein? Deine Idee ist Unsinn.“ Heinz Hieronimus lässt sich nicht schrecken. Am Montagmorgen verkündet er, bald werde die Lieferung mit zehn Fahrrädern eintreffen.

Als er im Krankenhaus liegt, nach einem Schwächeanfall, ruft er den Schwestern am Abend im Vorbeigehen zu: „Ich geh noch rasch runter in die Caféteria“, verlässt jedoch die Klinik, fährt zum Kurfürstendamm und übernimmt den Nachtdienst. Am folgenden Morgen liegt er wieder in seinem Krankenbett.

Jenseits der Apotheke spricht er nie über die Arbeit. Holt Klara und Georg vom Kindergarten ab, von der Schule. Fliegt sommers mit ihnen auf Inseln, winters in die Berge. Führt sie jeden Sonntagnachmittag in Berlins Museen, setzt sich am Sonntagabend mit Klara und einem Liter Eis vor den „Tatort“. Schüttelt milde den Kopf über die laute jugendliche Musik aus dem Obergeschoss: „Na ja, irgendwann haben die ein Hörproblem.“ Belästigt seine Kinder nicht mit der Frage nach der Übernahme der Geschäfte. Wollen sie, gut, wollen sie nicht, vielleicht besser.

Wer weiß, hätte es die Apotheke der Eltern nicht gegeben, wäre Heinz Architekt geworden. Er baut und bastelt und streicht in seinem Haus. Verreist man mal, kommt nach zwei Wochen zurück, ist es sicher, dass irgendetwas umgeräumt, umgestaltet, erneuert wurde. Gleichwohl lebt Heinz in einer „zauberhaften Unordentlichkeit“, formuliert ein Freund und Kollege, vergisst sein Auto abzuschließen, zieht versehentlich den Stecker der Gefriertruhe, randvoll mit Blutplasma, kommentiert den Schaden einen Tag später spöttisch: „Haben wir wenigstens Strom gespart.“

Übellaunigkeit? Ausfälligkeiten? Niemandem, nicht den Kindern, nicht den Freunden, nicht den Mitarbeitern, fällt eine Begebenheit ein. Die private Moral scheint nicht verschwunden. Anzeichen unter den Menschen lassen hoffen. Tatjana Wulfert

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