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Berlin: "Hier findet der Abriss ihrer Welt statt, der einzigen, die sie kannten" - Cees Nooteboom in seinem Notizbuch über die Nacht der Nächte

Donnerstag abend. Ich bin zurück in Berlin und mit Fotografin und einem Freund in einem Taxi unterwegs.

Donnerstag abend. Ich bin zurück in Berlin und mit Fotografin und einem Freund in einem Taxi unterwegs. Wir unterhalten uns, und auf einmal höre ich etwas im Geräusch der Stimme aus dem Autoradio, ein Geräusch, das ich kenne. Es hat den quengelnden, gehetzten, sich selbst noch nicht recht glaubenden Ton großer Ereignisse. Der Taxifahrer ist ein Mädchen, ich bitte sie, das Radio etwas lauter zu stellen, aber das ist gar nicht mehr nötig, sie erzählt uns die Neuigkeit, nachdem sie weiß, dass wir ihre Sprache verstehen. Sie ist aufgeregt, wirft die blonden Haare zurück, schreit fast. Die Mauer sei geöffnet, alle seien auf dem Weg zum Brandenburger Tor, ganz Berlin sei auf den Beinen, wenn wir nichts dagegen hätten, würde sie uns hinfahren, sie wolle es auch sehen, wenn es uns nichts ausmache, da jetzt hinzufahren, stelle sie den Taxameter ab. Der Verkehr wird zusehends dichter, schon hundert Meter nach der Siegessäule kommt man kaum mehr weiter. In dem qualmenden Trabant neben uns halten uns junge DDR-Bürger ihr Visum entgegen, ihre Gesichter sind in der nächtlichen Beleuchtung bleich vor Aufregung. Ich sage dem Mädchen, dass sie zum Reichstag besser über die John-Foster-Dulles-Allee fahren könnte. Dulles, Reichstag, Krieg, Kalter Krieg, hier kann man nichts sagen, ohne in einer Vergangenheit zu sprechen.

Das düstere Schiff des Reichstags liegt in einem Menschenmeer, jeder versucht, auf die hohen Säulen des Brandenburger Tores zu klettern, zu den rasenden Pferden ganz oben. Das Podest, von dem aus man Unter den Linden überblicken kann, schwankt unter der Last der Menschen, mühsam kämpfen wir uns nach oben, wenn jemand herunterkommt, rücken wir wieder um einen Körper weiter.

Der leere Halbkreis vor den Säulen wird von unechtem, orangefarbenem Licht beleuchtet, die geschlossene Front der Grenzsoldaten darin sieht aus wie eine machtlose Reihe gegen die Gewalt der Menge auf unserer Seite. Wenn ein Jugendlicher auf die Mauer klettert, versuchen sie ihn herunterzuspritzen, aber der Strahl ist meistens nicht stark genug, und die einsame Gestalt bleibt stehen, nass bis auf die Knochen, ein lebendiges Standbild in einer Aura weiß erleuchteten Schaumes.

Schreien, Grölen, das hundertfache Blitzlicht der Kameras, als sei die Mauer schon durchsichtig, als gäbe es sie schon fast nicht mehr. Die Jungen tanzen in den Wasserstrahlen, die verletzbare Reihe der Soldaten ist das Dekor zu ihrem Ballett. Im Halbdunkel kann ich deren Gesichter nicht sehen, und sie wiederum sehen nur die Tänzer. Die anderen, das große Tier Masse, die immer mehr anschwillt, können sie nur hören. Hier findet der Abriss ihrer Welt statt, der einzigen, die sie kannten.

Auch auf dem Rückweg will das Mädchen den Taxameter nicht einschalten. Sie sagt, dass sie glücklich sei, diesen Augenblick nie mehr vergessen könne. Ihre Augen leuchten. Ihr Freund sei nun irgendwo an der Mauer, gern würde sie diesen Moment mit ihm teilen, aber sie wisse nicht genau, wo, und außerdem müsse sie bis sechs Uhr morgens arbeiten.

Der nächste Morgen. Freitag. Ich stehe im Café Adler hinter dem Fenster, dem letzten Café im Westteil der Stadt am Checkpoint Charlie. Your are now leaving the American Sector, und auch das ist bedeutungslos geworden, als sei selbst diese Sicherheit in Windeseile abgeblättert. Langsam strömen die Trabis durch die Grenze. Einer gibt den Leuten in den Autos Geld, ein anderer Blumen. Die Menschen weinen oder gucken ganz verblüfft, als sei es nicht wahr, dass sie hier fahren und dass die West-Berliner ihnen zuwinken und zurufen. Die DDR-Grenzer stehen auf der anderen Seite der Straße, wenige Meter von ihren westlichen Kollegen entfernt. Sie sprechen nicht miteinander, halten sich aufrecht in der quirligen Menge.

Alles wie immer, Visum, Geld wechseln

Ich sehe mir ihre Gesichter an und kann genauso wenig wie gestern in der Dunkelheit darauf etwas lesen. Dann gehe ich selbst hinüber, stelle mich in die Reihe, alles wie immer, Visum, fünf Mark, Geld wechseln zum Verzweiflungskurs von 1:1, während der wirkliche Kurs 1:10 ist. Es geht schnell, innerhalb einer Viertelstunde bin ich drüben, aber die Schlange vom Osten in den Westen ist unendlich lang und reicht bis weit in die Friedrichstraße hinein.

Ich gehe zum Verlag Volk und Welt, bei dem zwei meiner Bücher erschienen sind. In der Gegend ist es ruhig, die Haustür steht offen. Ich treffe einen der Lektoren und werde mit Berliner Humor begrüßt: "Wie nett, dass Sie kommen, wo nun doch jeder in die umgekehrte Richtung geht!" Aber man merkt ihnen an, dass sie von den Ereignissen überrascht wurden. Keiner weiß, wie sich das entwickeln wird. Ich sage, dass ich von einem ungarischen Freund gehört habe, dass dort nach der Veränderung, ein besseres Wort fällt mir nicht ein, über zweihundert neue Verlage gegründet wurden, und das wissen sie natürlich schon, aber das größte Problem bei ihnen bliebe doch die Frage, wie man an Papier kommen soll.

Zur Wiedervereinigung kann niemand ein vernünftiges Wort sagen. "Wie sähe das wirtschaftlich aus? Hier kann kein Mensch ein Buch aus dem Westen bezahlen. Unsere Bücher kosten nur ein paar Mark." Der Verlag gibt eine wunderbare Reihe mit ausländischen Autoren heraus, von Duras bis Frisch, Queneau, Kawabata, Canetti, Cheever, Calvino, Bernlef, Sarraute, Hugo Claus, was aber wird aus ihren Lizenzen werden, wenn die westdeutschen Verlage auch im Osten frei operieren können? Bekommen sie dann noch die Rechte? Es gibt Hunderte Fragen dieser Art, das ganze Land ist eine große Frage ohne Antwort, und jede mögliche, jetzt noch undenkbare Antwort, wirtschaftlich oder politisch, berührt das persönliche Leben von Millionen von Menschen.

"Die Welt ist gläsern geworden", sagt der Lektor, und dieses Gefühl bleibt mir, als ich wieder draußen herumspaziere. Nun sehe ich die Stadt, in der ich wohne, von der anderen Seite, das geht immer noch. Die westliche Menge steht auf der Mauer, die Kameras von CBS und BBC filmen das geräuschlose Winken und Jubeln, die ferne Ekstase. Im klassischen Niemandsland zwischen hier und dort gehen die Offiziere im Dekor der Säulen auf und ab wie sonst auch, Sonnenlicht auf den Epauletten.

Im Zentrum einer künftigen Weltstadt

Gläsern, das Wort lässt mich nicht mehr los. Die Welt stimmt hier nicht mehr. Ich gehe über Unter den Linden, im Schaufenster einer großen Buchhandlung liegt die Luxusausgabe der Gesammelten Werke Erich Honeckers. Es sind Miniaturausgaben, daumengroß, in Leder gebunden. Alles für das Wohl des Volkes. Als ob sie mit ihrem winzigen Format das Schicksal des entmachteten Staatsführers darstellten. Die Ausgabe kostet 420 Mark. Wann war der Kuss von Gorbatschow?

Links und rechts stehen große alte Häuser. Früher lag hier das wirkliche Zentrum einer Weltstadt, und erst jetzt merke ich, wie groß sie war, wie groß sie sein wird, wenn sie wieder eine Stadt ist. Die Hauptstadt eines Reiches? Friedrich der Große war nie weg, er reitet in heroischem Stillstand auf seinem Pferd, die winkenden Gestalten auf den neoklassizistischen Gebäuden tanzen versteinert im letzten Sonnenlicht, vor Schinkels Neuer Wache stehen zwei völlig bewegungslose Soldaten, gegenüber, am Bebelplatz, erinnert ein Gedenkstein an die Bücherverbrennung: "Auf diesem Platz vernichtete nazistischer Ungeist die besten Werke der deutschen und der Weltliteratur." Und ein paar Meter weiter: "LENIN arbeitete im Jahre 1898 in diesem Gebäude."

Kann ich etwas sehen an den Menschen? Nein, ich kann an den Menschen nichts sehen. Sie gehen spazieren und kaufen ein wie immer, als strömte die Hälfte ihrer Stadt in diesem Augenblick nicht in den Westteil.Der Autor war 1988 / 1989 Gast des Künstlerprogramms des DAAD.

Aus: Cees Nooteboom: Berliner Notizen. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1991. Übersichtsseite zum 10. Jahrestag des Mauerfalls

Der Autor war 1988, 1989 Gast des Künstlerpr

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