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S-Bahn Zug am Alexanderplatz (Archivbild)

© imago/Emmanuele Contini/IMAGO/Emmanuele Contini

Ich dachte, ich kenne den Bahnhof Alexanderplatz: ...doch plötzlich erlebe ich eine Überraschung an Gleis 4

Unsere Autorin kennt den Bahnhof Alexanderplatz wie ihre Westentasche. Doch Spontan-Bauarbeiten bei der S-Bahn zeigen ihr: die Berliner Selbstüberschätzung kann gefährlich sein.

Claudia Seiring
Eine Glosse von Claudia Seiring

Stand:

Der Alex ist mein persönlicher Verkehrsknotenpunkt. Täglich bin ich mindestens zweimal vor Ort, oft dreimal, manchmal viermal. Ich weiß genau, wo ich per S- oder U-Bahn aussteigen muss, um direkt an der richtigen Treppe, dem richtigen Ausgang, dem exakten Umsteigepunkt oder auch einem bestimmten Kiosk zu landen.

Inmitten des Menschenstroms, der sich auf allen Bahnsteigen, an allen Stationen und zu nahezu jeder Uhrzeit hier ergießt, ist es für mich wie ein Spiel.

Geht die Tür exakt an der Rolltreppe auf? Bin ich die Erste, die die Treppe ins Rollen bringt? Bleibt die U-Bahn so am Zeitungskiosk stehen, dass ich direkt davor lande? Ich merke mir die Startpunkte meiner Bahnen, korrigiere sie gegebenenfalls und optimiere so täglich meine Zielgenauigkeit.

Klingt komisch? Mir macht es Spaß. Sogar so viel, dass ich öfter lächeln muss. Auch das ist rund um den Alex gar nicht schlecht. Wer lächelt, erhält an diesem Bahnhof im Verhältnis 2:1 ein Lächeln zurück. Das heißt: Von zwei Menschen, die mein Lächeln auffangen, gibt es mir einer zurück. Die andere Person ist vermutlich zu sehr in Eile.

Der Alex ist wie meine Westentasche. Und dazu noch Messstelle für Tages- oder Jahreszeit, für Temperatur, Touristenquote und den Grad an Berlin-besuchenden Abiklassen. Auch die Frequenz von Junggesellinnen-Abschieden ist an der Hütchen-, Krönchen und Puschel-Dichte abzulesen.

Ich bin eine echte Alex-Auskennerin – dachte ich in typischer Berliner Selbstüberschätzung.

Claudia Seiring

Der Beginn der Sommerferien erkenne ich an der sogenannten Großeltern-Enkel-Dichte im Ausflugsmodus (gerne Richtung Erkner oder Potsdam). Ist Messe unterm Funkturm, sind die Anzugträger am Alex plötzlich in der Überzahl. Um zu wissen, ob Hertha, Union oder die Eisbären am Start sind, brauche ich keinen Spielplan.

Schlafwandlerisch steige ich in die S-Bahn, gen Westen natürlich vom Gleis 4, Richtung Osten vom Gleis 3. Auf die Anzeigetafeln schaue ich höchstens, um zu erfahren, wann meine Bahn einfährt. Ich bin also eine echte Alex-Auskennerin – dachte ich in typischer Berliner Selbstüberschätzung.

Das kann sich jedoch als gefährlich erweisen: Denn plötzlich fuhren die S-Bahnen auf Gleis 4 wegen Bauarbeiten in beide Richtungen, nach Westen wie nach Osten. Und das im Abstand von einer Minute! Und so füllt sich der Bahnsteig mit Menschen, vor allem mit Menschen mit Gepäck. Geht’s zum BER? Oder zum Hauptbahnhof? Egal. Gleis 4 ist auf jeden Fall richtig – ob Flugzeug oder ICE.

Im Takt der hektischen Hauptstadt wechseln die Anzeigen. Von „Spandau“ zum „BER“, von „Potsdam“ nach „Erkner“. Wer sich auszukennen glaubte, muss umdenken. Und auch mal in ungewohnte Richtungen schauen: Die tägliche S-Bahn kann heute durchaus von der anderen Seite kommen. Ein Hoch auf die S-Bahn-Leitstelle, die diesen schnellen Schienenwechsel im Blick hat.

Seit Generationen wird Karl Scheffler zu Berlin zitiert. Mit seinem zeitlosen Satz, die Stadt, dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein. Wohlan. Bloß nicht gewöhnen, immer dazulernen. Auf geht’s. Mal sehen, was morgen ist.

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