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Berlin: „Ich flehte zu den zornigen Göttern“

Alexandra David-Néel wollte unbedingt die verbotene Hauptstadt Tibets, Lhasa, besuchen. Dafür verkleidete sie sich als Bettelpilgerin – und schlug im Gebirgsland Räuber in die Flucht

Es war Abend, und wir waren müde von der langen Wanderung. Ich ging voran und schaute eben nach einem Lagerplatz aus, als ich sah, wie sieben Männer uns entgegenkamen. Ich ahnte sofort Böses. Immerhin, Kaltblütigkeit ist bekanntlich die beste Waffe, und meine Gewöhnung an ein Leben voll Abenteuer hatte mich gegen derartige Lagen gewappnet. Ich ging also ruhig und mit der ganzen Teilnahmslosigkeit einer müden Pilgerin weiter.

Einer von der Bande blieb in der Mitte des schmalen Pfades stehen und fragte mich, woher und wohin. Ich murmelte die Namen einiger Wallfahrtsorte und ging zwischen ihm und dem Gebüsch durch. Er versuchte nicht, mich festzuhalten, und ich freute mich schon bei dem Gedanken, dass alles wieder einmal gut gegangen sei, als ich mich umdrehte und sah, dass mein Begleiter und Pflegesohn Yongden nicht weitergegangen war.

Ich bemerkte, dass einer der großen Burschen etwas aus seiner Umhängetasche herausnahm. Yongden schrie mir zu: „Sie haben mir meine beiden Rupien weggenommen!“ Der Geldverlust war ja nicht der Rede wert, aber ich sah, dass einige der Räuber Hand an die Last auf seinem Rücken legten und sie gerade öffnen wollten. Nur wurde es Ernst. Ein Kampf war ausgeschlossen, denn wenn ich einen der Männer erschoss, würden die anderen meinen wehrlosen Begleiter sofort mit den langen Schwertern erschlagen haben, die sie im Gürtel trugen.

Andererseits konnten wir sie nicht ohne Gefahr den Inhalt unserer Ranzen untersuchen lassen. Die ausländischen Gegenstände darin mussten den Wilden auffallen, ihr Besitz die zerlumpten Pilger verdächtig machen. Waren die Räuber aber erst einmal auf der Spur, konnten sie leicht darauf verfallen, uns zu durchsuchen und dabei das unter unseren Kleidern verbogene Gold finden. Und was dann? Uns entweder auf dem Fleck totschlagen oder uns vor einen ihrer Häuptlinge schleppen, der dann, wenn ich zugab, eine verkleidete Ausländerin zu sein, den nächsten Vertreter der Lhasa-Regierung benachrichtigte. Hielt ich aber an meinem Inkognito fest, so wurden wir eben als Diebe behandelt, was so viel hieß wie: Er behielt unweigerlich unser Gold für sich, und wir bekamen unbarmherzig Prügel.

Am meisten fürchtete ich, erkannt und an der Weiterreise gehindert zu werden. Die Männer mussten in dem Glauben bleiben, dass sie es mit einem armen Bettler und einer alten Arjopa-Pilgerin zu tun gehabt hatten, dann würden sie die Begegnung bald restlos vergessen haben.

Diese Gedanken fuhren mir viel rascher durch den Kopf, als ich sie hier aufschreiben kann. Die Handlung für das ländliche Drama, das hier über die Bühne gehen sollte, war schnell gefunden, nun ging’s ans Spielen meiner Rolle.

Verzweifelt aus vollem Halse heulend beklagte ich, während dicke Tränen mir die Wangen herunterrollten, den Verlust der zwei Rupien, unseres einzigen, unseres alleinzigsten Geldes! Was sollte nun aus uns werden, und wie konnten wir uns auf unserer langen Pilgerreise zu essen verschaffen?

Nun ging ich von Tränen zu Flüchen über, was mir gar nicht schwer fiel. Ich bin wohl bewandert im tibetischen Pantheon und wandte mich gleich an die am meisten gefürchteten Götter. Zuerst kam Palden Dorjee Lhamo an die Reihe, die Göttin, die im Sattel aus blutiger Menschenhaut auf ihrem wilden Pferd daherjagt. Dann flehte ich zu den „Zornigen“; sie nähren sich von Menschenfleisch, und ihre Leibgerichte sind frische Menschengehirne, im Schädel serviert. Auch die riesenhaften „Fürchterlichen“ fehlten nicht, die Begleiter von König Tod, mit Knochen bekränzt, tanzen sie auf Leichen. Sie alle rief ich auf und flehte sie an, uns zu rächen.

Ich habe für gewöhnlich nichts Dramatisches an mir, aber in diesem Augenblick fühlte ich mich jeder großen Tragödin ebenbürtig. Es dunkelte im Walde, und ein leichter Lufthauch raunte und flüsterte in den Blättern. Aus dem unsichtbaren Bergstrom unten in der Tiefe schienen düstere, geheimnisvolle Stimmen bis zu uns herauf zu klingen.

Ich blieb innerlich ruhig und zitterte nicht vor den Dieben – ich war ein anderes Mal schon mehr als sieben zugleich entgegengetreten; was mich erschauern machte, war die okkulte Stimmung, die ich selbst geschaffen hatte. Und darin war ich nicht allein. Die sieben Räuber standen wie versteinert da, die ganze Gruppe war wie vom Schreck gelähmt, und ich hätte sie zu gern fotografiert. Aber für Schnappschüsse war es nicht der richtige Augenblick.

Einer der Männer kam mir vorsichtig etwas näher und versuchte aus einiger Entfernung Friedensverhandlungen: „Sei nicht böse, altes Mütterchen! Hier sind eure zwei Rupien, weine nur nicht und hör auf mit Fluchen! Wir wollen auch ganz friedlich in unser Dorf zurückgehen.“ Ich ließ darauf Wut und Verzweiflung abflauen und nahm die beiden Geldstücke so entgegen, als habe ich einen unersetzlichen Schatz zurückerobert.

Aus dem Französischen von Ada Ditzen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Fischer Taschenbuch Verlags. Die (gekürzte) Passage stammt aus Alexandra David-Néels Buch „Mein Weg durch Himmel und Höllen“. Ausschnitte aus Alexandra David-Néels Reisebericht sind heute um 10 Uhr 45 in der Sendung „Leseprobe“ des Kulturradios vom RBB zu hören (UKW 92,4). – Die nächste Endeckungsreisende in unserer Serie ist die Orientalistin Freya Stark (erscheint am Freitag).

Alexandra David-Neel

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