zum Hauptinhalt

Berlin: Im Kiez der grünen Volkspartei

Alternatives Milieu, urbanes Lebensgefühl, Kinder, sanierte Altbauten – in Kreuzberg Südwest haben CDU und FDP kaum Chancen

Es muss etwas dran sein am alternativen Lebensstil. In den Cafés an der Kreuzberger Bergmannstraße haben die Angestellten an diesem ganz normalen Dienstag Mittag gut zu tun. Die Naturkosthändlerin in einer Nebenstraße wirkt nicht, als bange sie um ihre Existenz. Naturkosmetik, mexikanisches Bier, Krimis vom Krimibuchladen „Hammet“, Comics von „Grober Unfug“, Blumenläden, ein Yoga-Buchverlag – die Gegend um den Marheinekeplatz funktioniert, Großstadtbetrieb lässt kleine Läden leben. Es ist die Gegend mit den meisten Grün-Wählern in Berlin, die grüne Hochburg – die Europa-Wahl hat es bewiesen. Straßenweise haben die Grünen mehr als 65 Prozent geholt. Joschka Fischer behauptet vom Plakat herunter: „It’s yourope“. Jemand hat ihm eine Verpackung von „Mövenpick Maple-Walnut“ auf den Finger geklebt. Nicht auszudenken, was hier aus einem CDU-Plakat geworden wäre.

Es gibt einen historischen und einen soziologischen Erklärungsansatz für die grüne Stärke im Bergmannstraßenkiez. Im Gespräch auf der Straße bekommt man beide angeboten. Ein Fotograf und ein Kunst-Kritiker Autor leiten die Bedeutung der Grünen historisch her. Es sei eine 68er-Gegend, sagt der Fotograf. Die 68er und deren Nachfolgegeneration, wie er um die 40, dominierten in der Gegend. Er lebe seit 20 Jahren hier, sagt der Mann mit den langen schwarzen Locken. Die Gegend, früheres Sanierungsgebiet, sei „intakt“ – das trifft ein hier verbreitetes Lebensgefühl. Mit den Grünen ist es für den Fotografen wie mit den 68er-Idealen: vergangen und verweht, doch immer noch besser als der ganze politische Rest. Ihre Beteiligung an der Reformpolitik wirft ihnen keiner vor. Praxisgebühr, Hartz IV, Rentenbesteuerung – im Bergmannkiez kein Thema. Die Grünen seien sozialpolitisch ein wenig „rechts“ geworden, sagt der Fotograf. Doch stritten sie darüber „offener, ehrlicher, rationaler“ als alle übrigen Politiker – für den Fotografen lauter Populisten. Der Kunstkritiker, generationsmäßig ein 68er, sieht die Grünen als Repräsentanten eines Milieus, das „seit 30 Jahren“ in allen westlichen Metropolen zu finden sei, in New York mit Greenwich Village, in London mit Notting Hill. Es sind die Großstadtbewohner, die ihr Auskommen haben, aber auch noch ein paar politische Ideale. Sie fühlen sich links-liberal und wählen – so der Kritiker – „bewusst“ EU-Abgeordnete, die ihnen glaubwürdig erscheinen, Daniel Cohn- Bendit oder Rebekka Harms, Träger eines grünen Gütesiegels.

Die soziologische Erklärung für das grüne Hochburg-Phänomen bezieht ein paar aktuelle Faktoren mit ein, die eine Lehrerin und eine 29 Jahre alte Mutter nennen. Seit 30 Jahren wohne sie hier, sagt die Lehrerin, die an einer Neuköllner Schule unterrichtet. Grün an ihr ist zum Beispiel, dass sie kein Auto hat und keins will. Grün an ihrer Umgebung ist für sie, dass viele „vernünftig leben“ wollten, mit „guten Nachbarschaftsbeziehungen“, friedlich, ausländerfreundlich. Wobei die Migranten in ihrem Haus darauf geachtet hätten, dass ihre Kinder Deutsch lernten, sagt die Lehrerin. Kein Gedanke an die CDU? „Der Merkel“, sagt die Lehrerin mit strengem Blick, „trau’ ich alles zu.“ Vernünftig leben heißt für die Frau mit Kind, dass sie grün wählt, um Öko- und Biofragen etwas Gewicht zu verschaffen. „Die Wirtschaft“ habe in der EU ihre Lobby. Die „Bio-Geschichten“ aber würden, man denke an gentechnisch veränderten Pflanzen, „europaweit wichtig“. Voller Blumen sind die Balkons an den Altbaufassaden. An einem hängt die Regenbogenflagge mit der Aufschrift „Pace“. An einer Hauswand steht in blauer Schrift „2010 – brutale Barbarei“.

Die Bergmannstraße im Südwesten Kreuzbergs führt durch acht Wahlbezirke mit insgesamt 7861 Stimmberechtigten.

Die Wahlbeteiligung lag im Kiez bei der Europawahl mit 34,28 Prozent um rund vier Prozentpunkte unter dem Berliner Durchschnittswert.

Im aktuellen Sozialstrukturatlas liegt die Bergmannstraße auf Rang 271 von 298, also am unteren Ende. Das weist auf eine niedrige Einkommensstruktur unter den Einwohnern hin. Der Polizei gilt der Kiez als „eine der besseren Ecken“. Für die unten stehende Grafik wurde aus den Ergebnissen der acht Wahlbezirke der durchschnittliche Stimmanteil der Parteien errechnet. tow

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false