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Berlin: Im Namen der Ehre

Mitten in Berlin regeln türkische Familien ihre „Angelegenheiten“ manchmal ohne Behörden. Töchter oder Enkelinnen, die Schande über die Familie bringen, müssen sterben. Der Großvater in Anatolien gibt den Befehl, die Verwandten gehorchen

Von Sandra Dassler

Wäre es nach dem Willen ihres Großvaters gegangen, hätte Ebru* schon vor 14 Jahren sterben müssen. Damals war sie aus der Kreuzberger Wohnung ihrer Eltern geflohen, weil sie sich nicht zwangsverheiraten lassen wollte. Die 18-Jährige liebte einen anderen. Für diesen Achmed* riskierte Ebru ihr Leben. Denn ihre Eltern stammen aus einem Gebiet in Ostanatolien, in dem die türkischen Kurden auch heute noch sehr traditionell leben. Eine Regel lautet, Mädchen, die Schande über die Familie bringen, dürfen getötet werden. Und Ebrus Großvater war das unumstrittene Familienoberhaupt. Der Clan hatte zu gehorchen.

„Das sind total archaische, streng patriarchalische und feudalistische Stammesstrukturen“, sagt der migrationspolitische Sprecher der Berliner PDS, Giyasettin Sayan. Er kommt selbst aus diesem Gebiet um die Städte Erzurum, Mus und Varto. „Als dort 1966 ein Erdbeben wütete, ließ die türkische Regierung viele Überlebende, die Hab und Gut verloren hatten, als Gastarbeiter nach Deutschland rekrutieren. Tausende kamen nach Berlin.“ Heute schätzt Sayan ihre Zahl auf mindestens 15000. Sie wohnen in Kreuzberg, Neukölln und Wedding und haben engen Kontakt zu ihren Verwandten in der Türkei.

In Sayans Heimatstadt leben auch Ebrus Großeltern, Cousins und Cousinen. Sayan erzählt, er habe damals lange mit Ebrus Familie geredet und es geschafft, dass das Mädchen „nur“ verstoßen wurde. Der Großvater habe das Todesurteil zähneknirschend zurückgenommen, weil nur seine beiden in Deutschland lebenden Söhne den Mord hätten ausführen können. Beide hatten aber für große Familien zu sorgen. Und der älteste Enkelsohn, Ebrus Bruder, war erst zehn.

Nicht immer genügt das Verstoßen einer Tochter, um die Familienehre wieder herzustellen. Mustafa C. aus Kreuzberg, der viele Jahre als Streetworker gearbeitet hat, erzählt: „Männer, die wegen einer angeblich ungehorsamen Tochter oder Schwester in den Augen der anderen ihre Ehre verloren haben, werden in Teestuben nur widerwillig bedient. Man winkt ab, wenn sie etwas sagen. Sie sind Dreck.“

Karl Mollenhauer, Chefpsychologe der Berliner Polizei, weiß, dass solchen Familien oft der „soziale Tod“ droht: „Wenn sie in einem entsprechend geprägtem Umfeld leben, werden sie geächtet, verlacht oder ignoriert. Es gab Fälle, wo Väter vor Gericht aussagen, dass sie nur wegen solcher Reaktionen ihre Tochter oder Frau töten ließen.“

Ähnlich könnte es im Fall von Hatun Sürücü gewesen sein, vermutet Giyasettin Sayan. Die 23-Jährige, die sich aus der Tradition zu befreien versuchte, war Anfang Februar mit fünf Kopfschüssen regelrecht hingerichtet worden. Der Vater, sagt Sayan, bestreite zwar, dass die Familie den Tod von Hatun Sürücü beschlossen hatte. Der Mann glaube aber, dass seine drei tatverdächtigen Söhne durch eine islamistische Sekte, die 2003 von Bundesinnenminister Otto Schily verbotenen Hizb ut-Tahrir, zu der Mordtat gedrängt wurden.

Dass die ganze Wahrheit über Sürücüs grausamen Tod jemals herauskommt, hält Marius Fiedler für unwahrscheinlich. Der Leiter der Jugendstrafanstalt Plötzensee, in der zurzeit sechs jugendliche „Ehrenmörder“ ihre Strafe verbüßen, hat nie erlebt, dass die sich vor Gericht oder nach der Tat jemandem anvertraut hätten. „Vermutlich bekennen sich sogar manchmal jüngere Familienmitglieder zu Taten, die in Wahrheit ihre älteren Brüder begangen haben. Sie werden in Deutschland nach Jugendstrafrecht verurteilt und können deshalb auf geringere Strafen hoffen“, sagt er. Und erzählt, dass die Gefangenen von ihren Familien täglich besucht und verwöhnt werden: „Die gelten als Helden.“

„Ehrenmorde“, sagt Giyasettin Sayan, „werden vorkommen, solange hier in Berlin die archaischen Strukturen in diesen Familien überleben können. Den Blutpreis für die vermeintliche Ehre der Männer zahlten immer die Frauen. Als Opfer. Als Mütter und Ehefrauen der Opfer. Als Mütter und Ehefrauen der Täter. Giyasettin Sayan vermittelt gemeinsam mit einem kurdischen Imam häufig in Blutrache-Angelegenheiten. Manchmal lässt sich ein Mord durch einen beträchtlichen Geldbetrag verhindern, manchmal kann die „beleidigte Ehre“ durch eine Heirat zwischen verfeindeten Familien wieder hergestellt werden. Oder, indem für die rituelle Beschneidung die Patenschaft über einen Jungen des anderen Stammes übernommen wird. Der Pate wird dann automatisch Familienmitglied.

Deutsche Behörden bleiben in diesen Angelegenheiten ebenso außen vor wie die türkischen. „Das regelt man unter sich, innerhalb des Clans“, sagt Sayan. Und erzählt das Ende der Geschichte von Ebru, die er vor 14 Jahren gerettet hatte. „Sie bekam fünf Kinder von ihrem geliebten Achmed. Aber der begann irgendwann zu trinken, wurde arbeitslos. Und er schlug Ebru und die Kinder immer öfter.“ Weil er sie immer wieder bedrohte, musste Achmed auf gerichtliche Weisung die Wohnung verlassen. An einem Januarmorgen in diesem Jahr, Ebru hatte gerade die Kinder zur Schule gebracht, hat ihr Mann sie überfallen und erwürgt. Der Großvater in Ostanatolien sagte: „Sie hat es nicht anders verdient.“ Trotzdem fand er, seine Familie könne den Mord nicht einfach hinnehmen. Nun zittert die Familie des inzwischen verhafteten Achmed vor einem Racheakt. Und wieder ist Giyasettin Sayan als Vermittler unterwegs.

*Namen von der Redaktion geändert

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