zum Hauptinhalt
Schön gemütlich? Immerhin helfen die Aktenberge gegen die letzte Winterkälte: Mit Galgenhumor behilft sich mancher überlastete Mitarbeiter der Justiz.

© Kitty Kleist-Heinrich

Im Zweifel gegen die Anklage: Berlins oberste Staatsanwälte warnen vor Kollaps der Justiz

Verfahren werden aus Personalmangel eingestellt, ein Computersystem bringt Mitarbeiter fast zum Weinen: Die Behördenleiter der drei Berliner Staatsanwaltschaften wehren sich mit einem Brandbrief an Senator Thomas Heilmann gegen Sparvorgaben.

Von Fatina Keilani

„Wir stellen massenhaft Verfahren ein, notfalls auch mit zwei Augen zu!“ – „Wir gehen hier komplett unter, das Rechtssystem nimmt Schaden.“ Das sind nur zwei Sätze von vielen, mit denen Berliner Amtsanwälte derzeit ihre Arbeit beschreiben. Zum 1. Januar 2012 wurde das neue Computersystem Mesta (Mehrländer-Staatsanwaltschafts-Automation) eingeführt. Seitdem läuft nichts mehr rund bei den Strafverfolgern.

„Mesta ist wahnsinnig kompliziert, man braucht ewig, um nur eine einzige Akte anzulegen, die Geschäftsstellen sind total überlastet“, klagt eine Amtsanwältin, und ein Kollege sagt: „Wir haben sehr gute Geschäftsstellen, die Mitarbeiterinnen sind sehr engagiert, trotzdem sitzen sie manchmal vor Mesta und weinen fast.“ Zugleich sei die Zahl der Verfahren stark gestiegen. Allein der Zuzug von Menschen aus Rumänien und aus anderen Ländern Osteuropas habe zu einer „Explosion“ bei Einbrüchen und Diebstählen geführt, aber das dürfe man ja nicht laut sagen. Dass laut Kriminalstatistik die Zahl der Straftaten sinkt, erklärt ein Amtsanwalt damit, dass auch bei der Polizei wahrscheinlich niemand mehr da sei, der sie erfassen könne. Wütend merkt er an: Die vielen Akten sorgten immerhin für etwas Wärmeisolierung in seinem Büro.

Der Galgenhumor der Staatsanwälte kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie – mal wieder – am Rande ihrer Belastbarkeit angekommen sind. „Und jetzt sollen wir auch noch selbst tippen, damit Personal in den Geschäftsstellen eingespart werden kann“, klagt ein Staatsanwalt. Die Sparpläne des Senats haben jetzt sogar zu einem einmaligen Vorgang geführt: Die drei Behördenleitungen der Staatsanwaltschaften haben einen gemeinsamen Brandbrief an Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) geschrieben – und das, obwohl im Alltag nicht gerade übermäßige Freundschaft herrscht zwischen Generalstaatsanwaltschaft, Staatsanwaltschaft und Amtsanwaltschaft, die sich um die leichtere Kriminalität, etwa Diebstähle und Einbrüche, kümmert. Man sei über den geplanten Stellenabbau „bestürzt“, heißt es in dem Schreiben. Bei den sogenannten Folgediensten der Justiz, etwa Geschäftsstellen und Wachtmeistern, soll bis 2016 fast ein Drittel der Belegschaft allein in der Strafjustiz wegfallen; das entspricht 193,4 Vollzeitstellen.

Heilmanns Sprecherin Lisa Jani bestätigt: „Die Sparvorgaben gibt es nun mal, und alle sind aufgerufen, konstruktiv daran mitzuwirken, dass sie umgesetzt werden.“ Das sei ein offener Prozess, man wolle daran arbeiten, eine gemeinsame Lösung zu finden. Bei der Amtsanwaltschaft lagerten zum Jahresende 8480 „Reste“, also Akten, die länger als fünf Arbeitstage liegen, und 13 850 Neueingänge, die noch gar nicht eingetragen wurden. Um diese Zahlen allerdings gibt es Streit: Die Personalvertretung der Amtsanwaltschaft nennt deutlich höhere Zahlen. Bei der Staatsanwaltschaft lagen zum Jahresende ebenfalls rund 9000 „Reste“. Die Zahlen werden immer quartalsweise erhoben, neue Zahlen wird es also Ende März geben.

Staatsanwälte sehen das Funktionieren der Justiz in Gefahr. Ein bekannter Staatsanwalt sagt: „Wenn wir unsere Zeit damit vertun, selbst zu schreiben, selbst zu fotokopieren und die Akten selbst herumzutragen, dann können wir uns nicht auf unser Kerngeschäft konzentrieren.“ Während Verteidiger vor Gericht dann alle Register zögen, könnten die Staatsanwälte den nötigen Druck nicht aufbauen. So gerate das System aus der Balance.

„Der Bürger hat Anspruch auf eine funktionierende Strafjustiz“, sagt auch Oberstaatsanwalt Ralph Knispel von der Vereinigung Berliner Staatsanwälte. Auch er hadert mit dem neuen Computersystem. „Es erweist sich für die Größenordnung Berlins als nicht geeignet“, so Knispel. Immerhin sind hier rund 333 Staatsanwälte und etwa 100 Amtsanwälte beschäftigt. Schon ein Tippfehler reiche, um einen Vorgang nicht mehr zu finden, und sei es nur ein Fehler bei der Groß- und Kleinschreibung.

„Ja, es hat bei Mesta Probleme gegeben. Wir arbeiten daran“, sagt Heilmanns Sprecherin Jani. Von einer elektronischen Akte ist die Strafjustiz auch unter dem IT-affinen Senator Heilmann weit entfernt. Regelrecht skurril ist es, dass die Polizei ihre Akten bereits digital führt, sie der Staatsanwaltschaft so aber nicht übermitteln kann. Stattdessen werden sie ausgedruckt und per Post herübergeschickt. Einige Daten werden elektronisch übermittelt, anderes muss von Hand erneut eingegeben werden. „Allein was für eine Entlastung es bringen würde, wenn Staatsanwälte ihre Handakte für die Sitzung nicht erst kopieren müssten, sondern digital auf einem Notebook hätten!“, sagt Knispel.

An Mesta sind sieben Bundesländer beteiligt, Berlin trat Mitte 2010 dem Verbund bei. Zuvor hatte das Land im Alleingang versucht, das System Modesta zu installieren, was misslang; es wurden Millionen in den Sand gesetzt. Zum 1. Januar 2012 wurde Mesta eingeführt. Im November hatte sich Senator Heilmann bei einer Veranstaltung des Beamtenbunds sehr verärgert über die IT der Berliner Justiz geäußert.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false