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Thilo Sarrazin

© Davids

Thilo Sarrazin: In Mathe eine fünf

Finanzsenator Thilo Sarrazin erzählt beim Märcheninstitut Episoden aus seiner Kindheit. Strenge Eltern, ein angeborener Sparzwang und eine Liebe zu Grimms Märchen bestimmen seine Kindheitserinnerungen.

Von Thilo Sarrazin ist bekannt, dass er von Bahnchef Hartmut Mehdorn genauso viel hält wie von dessen geplanten Börsengang, nämlich gar nichts. Vor sechs Jahren hat er den Bahnvorstand im Streit verlassen, ein offenbar traumatisches Erlebnis, sonst hätte er wahrscheinlich nicht den wenig anheimelnden Posten als Berliner Finanzsenator angetreten. Am Montagabend wagt Sarrazin sich ganz nah heran an den alten Gegner. In Diekmanns Austernbar am Hauptbahnhof, direkt am Aufgang zu Gleis 11. Der Verein Märchenland hat ihn eingeladen, über seine Kindheitserinnerungen zu plaudern. Die Bar ist gut gefüllt mit neugierigen Gästen, die gern wissen wollen, ober Berlins Sparminister schon als Dreijähriger mit roten Stiften gespielt hat. (Die Austernbar ist ein Geheimtipp unter Mehdornfeinden: Vor einem Jahr hat hier Meinhard von Gerkan seinen juristischen Sieg in Sachen Flachdecke gefeiert.)

Der erste Eindruck ist ein überraschender: Mit der Zeit scheint Sarrazin offenbar nicht so sehr zu knausern wie mit dem Geld. Er kommt fünf Minuten zu früh, die Fotografen stürzen sich auf ihn, als gäbe es noch kein einziges Lichtbild vom Berliner Finanzsenator. Sarrazin brummt: „Hier ist ja mehr los als beim Haushaltsabschluss.“ Die Moderatorin Silke Fischer begrüßt ihn als „den vielleicht wichtigsten Mann Berlins“. Sarrazin schüttelt den Kopf, und man weiß nicht so genau, ob sich diese Geste auf „den wichtigsten Mann“ bezieht oder auf das „vielleicht“.

Es ist ein hübscher Zufall, dass die Märchenstunde in die selbe Woche fällt, in der Klaus Wowereit seine Memoiren präsentiert. Bekanntlich ist Sarrazin Wowereits Mann für schlechte Nachrichten. Der Schulen schließt und Zuschüsse streicht, während sich der Boss bevorzugt auf Partys vergnügt. So will es das Klischee, aber Klischees stimmen nun mal nicht immer. Weder beim bekennenden Aktenfuchs Wowereit noch bei Sarrazin, so viel wird an diesem Abend schnell klar.

Ja, es gibt ein Leben jenseits vom Flipcharts und Powerpoint-Folien. Thilo Sarrazin musste 64 Jahre alt werden, um einer breiteren Öffentlichkeit als amüsanter Plauderer aufzufallen. Der Moderatorin zittert vor Aufregung ein wenig die Stimme, aber sie muss gar nicht so viel moderieren, es reichen Stichpunkte, die Sarrazin aus dem Stegreif zu Anekdoten ausschmückt. Da ist das „H“ in seinem Vornamen, das die Geburtsurkunde unterschlagen hat und das er später, mit der ihm verliehenen Macht des Ministerialrates, in offizielle Dokumente hineinschmuggelte. Die konservativ-bürgerliche Familie gab dem späteren Sozialdemokraten früh eine Vorstellung von Haushaltsdisziplin: „Um 18.15 Uhr mussten wir Kinder nach Hause kommen, um 18.30 Uhr gab es Abendessen, um 18.45 Uhr wurde gebadet, um 19 Uhr ging es ins Bett.“ Jede Woche. Jeden Tag.

Sarrazin legt den Kopf leicht in den Nacken, er verschränkt die Arme und verrät, dass ihn Zahlen früher nie interessiert hätten. Jetzt könne er es ja sagen, da war eine Fünf im Mathematik in der Untertertia, die er daraufhin wiederholen musste. Viel lieber hat er gelesen, Grimms Märchen in altdeutscher Schrift, die er sich eigens dafür aneignete. Als Viertklässler schleppte er aus der Leihbücherei regelmäßig um die 15 Bücher pro Woche nach Hause, was dem Vater irgendwie nicht geheuer war und deshalb verboten wurde. Daraufhin verbrachte der zehnjährige Thilo seine Zeit bevorzugt in einer Präsenzbibliothek. Während die anderen Fußball spielten, arbeitete er die europäischen Klassiker durch, „ich glaube nicht, dass ich einen ausgelassen habe“. Überhaupt, was haben sie damals alles gelernt in der Grundschule, „Hochrechnung und ungleiche Brüche, wir hatten in Erdkunde eine Vorstellung von Norden, Westen, Süden, Osten“, und das mit 50 Schülern in der Klasse. „Wenn das, was wir in der vierten Klasse wussten, heute Standard beim mittleren Schulabschluss wäre, dann wären wir in Berlin weiter“.

Das Publikum johlt, die Zeit verfliegt, die Moderatorin dankt: „Hat noch jemand Fragen an Herrn Sarrazin?“ Der schaut ein wenig irritiert zurück. Fragen? „Ist doch alles gesagt“, in exakt 58 Minuten, man darf wohl davon ausgehen, dass eine Stunde veranschlagt war. Auch für einen Finanzsenator gibt es ein Leben jenseits der Märchenwelt.

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